»Die Kirche des Glöckners von Notre Dame«, ergänzte Sebastian ehrfürchtig. »Dort sah er vom Turm herab auf Esmeralda und verliebte sich unsterblich. Können wir nicht dorthin gehen?«
»Bloß nicht, das ist doch viel zu weit!«, murrte Aschinger, der sich bereits die Stirn wischte. »Wir könnten uns ein Taxi nehmen.«
»Nein, Paris muss man zu Fuß erleben!«, rief die Baroness. »Lass uns wenigstens bis zum Pont Neuf gehen! Wer weiß, wie lange sich das schöne Wetter noch hält. Danach sollten wir durch den Jardin du Luxembourg spazieren.«
Sebastian erinnerte sich, dass sich dort d’Artagnan mit den drei Musketieren getroffen hatte.
»Wir müssen doch nicht an einem Tag ganz Paris abklappern!«, murrte Aschinger.
»Aber wenigstens zum Pont Neuf will ich, meine zweitliebste Brücke. Dort steht das Denkmal von Henry IV. Ein König, der die Frauen liebte.«
»Meines Wissens liebten alle französischen Könige die Frauen und konnten davon gar nicht genug haben«, brummte Aschinger.
Am Seineufer entlang wurde es noch einmal ein langer Marsch. Aschinger blieb oft schnaufend stehen und wischte sich die Stirn. »So viel bin ich mein Lebtag nicht gegangen!«, stöhnte er.
»Du musst Sport treiben, Fritz, oder wenigstens viel spazieren gehen, damit du deinen Schmerbauch loswirst«, spottete die Baroness erbarmungslos.
Sebastian kam es so vor, als wolle sie Aschinger damit zu verstehen geben, dass sie trotz der gemeinsam verbrachten Nächte nicht so einfach zu erobern sei und Aschinger, um den Altersunterschied überbrücken zu können, mehr bieten musste als ein paar Kleider der besten Couturiers Frankreichs.
»Ich könnte wetten, du warst schon zigmal in Paris und hast außer dem Ritz und dem Place Vendôme oder der Rue de Rivoli nichts von Paris gesehen«, fuhr sie unerbittlich fort.
»Das waren auch Geschäftsreisen«, verteidigte sich Aschinger.
»Na, dann wurde es höchste Zeit, dass du einmal ohne deine dummen Geschäfte hierherkommst!«, antwortete sie schnippisch und zwinkerte dabei Sebastian zu.
Vor den mit rötlichen Steinen durchzogenen weißen Häusern hob sich an dem Pont Neuf das Standbild von Henri IV. ab, und es sah aus, als wäre er gerade dabei, in die Stadt einzuziehen, die ihm so lange getrotzt hatte.
»Die Häuser stammen aus der Zeit Richelieus oder Mazarins oder wie diese Kardinäle damals hießen. Fritz, Paris ist wundervoll!«
»Unser Potsdamer Platz ist auch ganz schön«, wehrte Aschinger ab. »Aber es stimmt schon: Wenn man dort, wo die Häuser sind, ein Hotel hinbauen würde, hätte man eine romantische Umgebung.«
»Untersteh dich, Fritz!«, entrüstete sich die Baroness. »Du kriegst es noch fertig und reißt die schönen Häuser ab, um dort eines deiner dummen Hotels hinzubauen!«
»Man könnte ja die Fassaden stehen lassen und …«
»Hör auf, Fritz!«
»Mach dir keine Sorgen! Lieber stelle ich noch ein Hotel am Kurfürstendamm hin. Die Ecke, wo das Café Kempinski ist, wäre dazu ideal.«
Über den Pont Neuf ging es weiter auf das rechte Seineufer, und nun war es Aschinger zu viel. Er winkte ein vorbeifahrendes Taxi heran, und sie fuhren mit einer schmollenden Baroness zur Notre Dame. Dort stiegen sie neben dem Denkmal Karls des Großen aus und gingen in die Kathedrale, von der Sebastian ein wenig enttäuscht war. Gewiss, sie war riesig, und das Halbdunkel verbreitete eine feierliche Stimmung, aber das Gedränge der Touristen ließ doch keine rechte Andacht aufkommen. Da sich Aschinger weigerte, zum Dach hochzusteigen, nahmen sie erneut ein Taxi und fuhren über den Boulevard Saint-Michel an der Sorbonne vorbei zum Jardin du Luxembourg. Die Baroness musste ein paar Mal mit dem Fuß aufstampfen, ehe Aschinger ihr in den Park folgte. Sie gingen an den herrlich gefärbten Kastanien vorbei, die im goldenen Licht der Mittagssonne lagen. Vor dem großen Bassin setzten sie sich auf eine Bank und sahen den Kindern zu, die dort ihre kleinen Schiffe ins Wasser setzten. Aschinger kaufte eine Tüte Vogelfutter und beschäftigte sich mit den Tauben. Bald war ein ganzer Schwarm um ihre Bank versammelt. Die Baroness stand mit einem Seufzer auf und nahm Sebastian am Arm.
»Komm, Johnny, wir gehen einmal um das Bassin und sehen uns das Schloss an. Fritz, du kannst dich hier ausruhen«, kommandierte sie. Ehe Aschinger antworten konnte, zog sie Sebastian hoch und zum Bassin hin. »Ein goldener Herbsttag«, sagte sie andächtig, und ihr Blick streifte verträumt die Bäume. »Glaubst du, dass ich das Richtige tue?«, fragte sie unvermittelt.
»Was meinen Sie?«
»Er wird mir heute Abend einen Heiratsantrag machen. Deswegen war er bei Van Cleef & Arpels.«
»Hat er Ihnen das gesagt?«
»Nein, aber so etwas weiß eine Frau.«
Sebastian war über ihre Indiskretion erstaunt. Diese intimen Dinge gingen nicht einmal einen Privatsekretär etwas an. Wieso zog sie ihn da hinein? »Ich kann Ihnen dazu nichts sagen. Ich kenne Sie zu wenig. Fritz Aschinger mag Sie sehr, das ist jedenfalls gewiss. Und eigentlich sollten Sie mir in solchen Dingen keine Fragen stellen.«
»Ach, hör auf, Johnny, ich frage dich als Mensch. Wir sind doch im gleichen Alter! Fritz ist so seriös. Und dann der Altersunterschied! Gut, ich lasse mich von ihm verwöhnen – aber reicht das für eine Heirat? Ich habe viele andere Bewerber, doch hinsichtlich Reputation sind sie dem König von Berlin natürlich nicht gewachsen, verstehst du? Vater wäre natürlich froh und glücklich, denn eine Heirat mit dem großen Aschinger würde seine Geschäfte mit ihm absichern und wäre außerdem ein großer Prestigegewinn für die Bank. Er hat mich regelrecht bedrängt, mich mit ihm zu treffen. Und als ich ihm sagte, dass ich mit Fritz nach Paris fahre, war er schier aus dem Häuschen. Er, der sonst so auf Anstand und Sitte achtet! Das alles spielt plötzlich keine Rolle mehr. Ich komme mir vor wie ein Stück Vieh, das er an den besten Bieter verhökert, oder wie eine Geiß, die man als Köder auf die Weide stellt, damit sie den Löwen anlockt.«
»Dann verloben Sie sich doch nicht!«, rutschte es Sebastian heraus, obwohl er sich eigentlich nicht einmischen wollte und ihm dies auch wie ein Verrat an Aschinger vorkam. Hoffentlich erzählt sie ihm das nicht!, dachte er besorgt. Er würde Sebastian das nie verzeihen.
»Fritz ist gutherzig und auf eine seltsame Art naiv, fast lebensfremd. Er ist ein anständiger Mensch, erfolgreich und reich. Aber er ist manchmal auch ein bisschen langweilig, nicht wahr? Und wenn die Flitterwochen vorbei sind, wenn man sich an das Neue gewöhnt hat, dann ist es vielleicht nur noch langweilig. Dann wird mich seine Ernsthaftigkeit ersticken.«
»Fritz Aschinger ist nicht langweilig!«, versuchte Sebastian seinen Fauxpas ungeschehen zu machen. »Er ist Geschäftsmann und wird in der Firma von allen bewundert. Er ist gutmütig und spendabel. Unsere Frau Proske sagt immer, dass er eine Seele von Mensch ist.«
»Ich weiß, dass er ein guter Mensch ist, aber er hat keine Freude am Leben. Er liebt keinen Spaß und macht keine Verrücktheiten. Kannst du dir vorstellen, dass er mit mir den Kurfürstendamm heruntertanzt oder mit mir Karneval feiert?«
»Das sind doch Kindereien!«
»Ja, aber ich mag verrückte Dinge. Ich tanze gern, feiere gern, reise gern. Ich will leben.«
»Vielleicht können Sie ihn dazu bringen, das Leben ein bisschen zu genießen.«
»Himmel, ich weiß nicht, ob ich das schaffe! Ich habe Angst vor heute Abend. Er wird mir einen umwerfenden Verlobungsring überreichen. Wenn ich ablehne, schlage ich eine der besten Partien Deutschlands aus, und Vater wird verärgert sein. Sage ich zu, bin ich seine Gefangene. Dann ist in ein paar Monaten Hochzeit.« Sie sah ihn mit Tränen in den Augen an. »Sebastian, was ist richtig?«
In ihren Augen sah er Angst. Auch die reichen Mädchen hatten also ihre Probleme, stellte er fest. Aber helfen konnte er ihr wirklich nicht. Sie musste selbst entscheiden, ob sie erwachsen werden wollte. Er ahnte, dass noch am Ende dieses wundervollen Herbsttages die Erwartungen Aschingers enttäuscht und der Traum, endlich die Frau seines Lebens gefunden zu haben, sich in Luft auflösen würde.
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