„Na bravo!“, beschwert sich die Vorgesetzte. „Die sind über alle Berge!“
„Wenn Sie mich fragen“, entschuldigt sich der alte Mann in Uniform, der die vermeintlichen Agenten entdeckt hat, „sind das womöglich Kinder! Die zugegeben äußerst sportlichen Backfische haben das Entscheidende gewiss nicht zur Kenntnis genommen.
Die Nachteulen sind zum besagten Zeitpunkt schlicht zu weit weg gewesen.“
„Dank der unüberlegten Schießerei kommen wir nicht umhin, die Zeugen zu eliminieren! Nicht auszudenken, wenn die Geschichte in der Presse erscheint!“
„Ohne Hintergrundwissen sind ihre Aussagen wertlos! Die Medien oder die Polizei interessieren sich nicht für das Abfeuern einer Waffe, wenn dies folgenlos geschieht. Jede Nacht fallen Schüsse in Paris. Entlang der großen Boulevards haben alle Metropläne Einschusslöcher. Durchgeknallte Halbwüchsige in schnellen Autos nutzen die hell erleuchteten Flächen als Zielscheiben. Die subversiven Subjekte haben, wenn überhaupt, den Präsidenten gesehen, der einen Staatsgast verabschiedet hat.“
„Haben die Vögelchen den Austausch der Geschenke denn mitbekommen?“
„Peinlich ist die fehlende Verpackung! Eine maßlose Schlamperei! Das hat Konsequenzen!“
„Unser Gast hat deinen Fauxpas galant übersehen. Vermutlich sind die schwulen Burschen nur zufällig vor Ort gewesen. Die Hecken dienen zur Deckung ihrer Spielchen.“
„Ruhe!“, mault ein Obdachloser auf der anderen Seite des Gehweges.
„Du bringst der Organisation nur Schande. In meiner Einheit ist kein Platz mehr für dich!“
»33« sieht vorsichtig hinaus. Der Waffenträger zieht der angestauten Hitze wegen sein Barett vom Kopf. Der Mann hat eine Glatze und auffallend kleine Ohren. Derart winzige Hörorgane hat Marcel bislang nicht beobachtet. Weitere Soldaten, die den Uferweg in die entgegengesetzte Richtung abgesucht haben, erreichen ihre Vorgesetzte und nehmen ebenfalls ihre Kopfbedeckungen ab. Keiner von Ihnen hat Haare auf dem Kopf. Nicht einmal ihre Chefin. Und alle haben die gleichen Besonderheiten.
„Wir vergeuden kostbare Zeit. Erstatten Sie Meldung! Abzug!“
„Der Leitungsstab hat uns sein Kommen zu spät angekündigt! Wir sind zu sehr in Eile gewesen, um das Gelände angemessen abzusichern!“
„Der Meister liebt spontane Auftritte! Selbst wenn die Schwuchteln das Bild erkannt haben, ist die Information alleine wertlos!“
Der Trupp kehrt zur Treppe an der »Pont Royal« zurück. Leise und beständig plätschert das Wasser der »Seine« gegen das gemauerte Ufer. Der Hund winselt nicht mehr. Der heiße Wind lässt die Zeltbahnen flattern. Ein Lastwagen fährt über die Brücke.
„Verfolgt von Außerirdischen!“, seufzt »ME«.
„Sind dir ihre winzigen Lauscher aufgefallen?“, fragt »33«.
„Ein nicht zu übersehendes Merkmal! Danke, Etienne, du hast uns das Leben gerettet.“
„Keine Ursache! Diese blassen Gestalten sind öfter entlang des Ufers anzutreffen und ständig auf der Suche nach einer imaginären Bedrohung. Uns Obdachlose nehmen die merkwürdigen Wesen aus unerfindlichen Gründen nicht wahr. Nicht die geringste Ahnung, warum das so ist. Als ob wir aus Luft bestünden.“
„Wir haben einen Riesen gesehen. Eine furchteinflößende Erscheinung, deren Anblick scheinbar verboten ist. Einer der Soldaten – der Alte – hat auf uns geschossen! In was sind wir da nur hineingeraten? Weshalb steht von übergroßen Existenzen nichts in den Zeitungen?“
„Hauptsache, ihr seid erst einmal in Sicherheit!“
„Ich bringe dir bei Gelegenheit eine Pulle Wein vorbei“, bietet »ME« seinem Freund an. „Ist das okay für dich?“
„Da sage ich niemals nein! Das weißt du. Bleibt eine Weile in meinem Zelt.“
„Ich gehe nach Hause“, drängelt »33«. „Bald fängt die Schule an!“
„Verstehe! Freut mich, dich kennengelernt zu haben. Wenn du am Ufer bist, schaue bei mir rein. Du bist immer willkommen!“
Marcel begeht den Fehler, sich kurz auf sein Bett zu legen. Der Wecker klingelt. Der Übermüdete wacht nicht auf und verpasst das Frühstück. Sein Vater hat das Haus früh am Morgen verlassen. Der Ingenieur eines französischen Fahrzeugkonzerns zieht die frühen Morgenstunden vor, um am Nachmittag Zeit für sich zu haben.
Die bretonische Mutter ist Parfümverkäuferin in einem der gigantischen Kaufhäuser hinter der »Opéra Garnier«. Cécile Amidieu ist ein Kopf größer als sein Alter Herr, weshalb der Spätpubertäre nur ungern mit den Eltern Gemeinsames unternimmt, insbesondere wenn Schulkameraden am gleichen Ort zu erwarten sind. Die strenge Mama wünscht sich nichts sehnlicher für ihren begabten Sohn als ein Studienplatz an der Elite-Universität »Sorbonne«. Vor ihrem Weg zur Arbeit rüttelt diese an der Zimmertür, um sich zu verabschieden. Aus Panik, den Geruch des Obdachlosen zu verbreiten, bleibt die Tür verschlossen.
„Bist du erkältet mein Liebling?“
„Nein, ich habe nur miserabel geschlafen!“
„Hast du gestern zu lange ferngesehen?“
„Bin beim Film eingeschlafen und mich haben Alpträume geplagt!“, lautet die Ausrede.
„Du hast in Kürze deine Prüfungen! Nervosität ist absolut normal.
Stehe endlich auf und gehe in die Schule!“
„Lass mich in Ruhe! Ich bin kein Kind mehr!“
„Dein Frühstück steht auf dem Tisch. Ich gehe jetzt los, mein Schatz!“
„Danke, Mama! Bis heute Abend.“
Marcel brüht sich am Gasherd in der kleinen schmalen Küche erst einmal einen überdosierten, von Hand gefilterten Kaffee. Das dickflüssige Aufputschmittel schmerzt im Gaumen und erzeugt kurz darauf Herzrasen. Marcel zittert am ganzen Körper. Der Raubbau an den Reserven hat zur Unterzuckerung geführt. Der Junge flucht wegen der eigenen Dummheit laut vor sich hin. Drei längliche Würfelzucker versinken in der öligen Substanz der zweiten Tasse. Der Gestank der Nacht schreit nach einer heißen Dusche. Ein weiterer Schluck zur Probe.
„Schon besser! Zwei Zucker mehr und die Mischung ist perfekt!“ Die Müdigkeit steckt tief in den Knochen. Der Gymnasiast schleppt sich zu dem ehrwürdigen Bauwerk, in dem das »Lycée Louis le Grand« seit 1563 untergebracht ist. Marcel steigt an der Metro-Station »Cluny – La Sorbonne« aus, durchschreitet den »Jardin Médiéval«, überquert den »Place Paul Painlevé« und biegt in die »Rue des Écoles« ab. Ihn trifft der Schlag. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lehnt »ME« an einer Hauswand und winkt ihn zu sich herüber.
„Ich habe auf dich gewartet.“
„Woher weißt du, auf welche Schule ich gehe?“
„Ist das so wichtig? Lass uns nach der Tüte suchen, bevor die Polizei unsere Unterlagen findet!“
„Ich schwänze nicht! Wir haben demnächst die ersten schriftlichen Klausuren.“
„Du handelst dir weit mehr Ärger ein, wenn die Schablone in die falschen Hände gerät!“
„Warum bist du nicht sofort zum Louvre gegangen?“
„Du beobachtest den Platz und warnst mich, falls diese sonderbaren Gestalten wieder auftauchen!“
Auf dem »Place du Carrousel« patrouillieren keine Glatzköpfigen mehr. Scharen von ahnungslosen Urlaubern stehen vor der großen Pyramide Schlange, weil ihnen der Nebeneingang, an dem sich nur selten Warteschlangen bilden, nicht bekannt ist. Trotz intensivem Stöberns bleibt die Tüte unauffindbar. Entweder haben die Soldaten das Beweismittel aufgelesen oder der Kehrdienst den Müll entfernt. Einige Touristen fotografieren ihr nächtliches Werk.
„Was habe ich dir gesagt!“, triumphiert »ME«. „Morgen lesen wir einen Artikel über das Kunstwerk in der Zeitung! Lass uns gleich heute Abend weitermachen!“
Читать дальше