„Auf der Insel gegenüber hat einst eine Frau namens Morgane gelebt.
Die Halbschwester des nebulösen Königs Artus hat die Region der Inseln beherrscht.“
„Das ist scheinbar Ewigkeiten her.“
„Durch massive Unruhen hat das Römische Reich zu jener Zeit die Vormachtstellung eingebüßt. Auf ihrer langen Wanderung haben die Goten eine Waffe mitgebracht, die auf Umwegen zu uns gelangt ist. Neuerdings ist behauptet worden, die Klinge sei aus Kalabrien und mit der »Macht der Götter« ausgestattet gewesen. Der erste Stahl in den Händen der Menschen.“
Der Junge schaut seine Tante an, als ob diese von einem anderen Stern zur Erde gekommen sei.
„Binde mir keinen Bären auf!“
„Hast du je von »Avalon« und von »Excalibur« gehört?“
„Wer kennt nicht das legendäre Schwert? Im Lateinunterricht haben wir gelernt »ex« heißt »aus«, »cai« bedeutet »Stein« und »libur« meint »frei«. Was hat der Säbel in der Bretagne verloren? Spielt die Artussage nicht in Britannien?“
„Wir sind in Britanien mit nur einem »N«! Das ursprüngliche Land der Kelten. Und alles geschah in »Letavia« und nicht auf den Inseln!“
„Beruhige dich! Ich habe verstanden, worauf du anspielst!“
Der Garçon serviert zwei »Chouchen« 1zum Aperitif.
„Der schmeckt hervorragend!“, urteilt Marcel.
„Achten Sie darauf“, mischt sich der Kellner ein, „Wenn Sie zu übermäßig davon trinken fallen Sie unweigerlich auf den Hinterkopf!“
„Ist das so?“
„Hier weiß das jedes Kind!“, stimmt Louane zu.
Die Servicekraft setzt ein Lächeln auf und verschwindet in Richtung Küche.
„Auf der Insel gegenüber hat Morgane Lancelot eingesperrt, um ihn zu verführen und ihm ihren Willen aufzuzwingen.“
„Liebe Tante, ich hoffe, du machst nur Spaß? Hast du Beweise? Denkst du dir das aus, um mich auf den Arm nehmen? Was weiß ich, der Junge aus der Stadt, über die Witze aus der Provinz? Jetzt sei bitte wieder ganz normal!“
„Bei uns Feen sind deine sogenannten Scherze fundierte Überlieferungen!“
„Seit wann bist du eine Fee?“
„Du bist durch Propaganda-Märchen verdorben, die uns Feen und Druiden diffamieren! Erst hat Rom, anschließend die Kirche, schließlich die vorgeblichen Aufklärer die Idee vom Leben mit der Natur diffamiert und uns in den Untergrund gedrängt. Wissen basiert auf den Lehren der Schöpfer. Wir haben die Kenntnisse zum Wohle der Menschen und aller Lebewesen angewandt. Schau nur, was Forscher dem Planeten angetan haben! Waffen und Umweltzerstörungen.“
„Ihr habt versäumt“, provoziert Marcel, „selbst Waschmittel und Fahrzeuge zu entwickeln. In diesem Fall wäre euer Ansehen in der Bevölkerung deutlich besser!“
Der Kellner bringt die frisch aufgebrühten Taschenkrebse, die der Koch fachgerecht geöffnet hat.
„Falls Sie einen Nussknacker oder Ähnliches benötigen, winken Sie mich kurz herbei.“
„Das geht schon!“, lächelt Louane die Bedienung an und führt ihre Ausführungen fort. „Die Allmächtigen haben uns solche Entwicklungen nicht erlaubt! Ihrer Aussaat und Schöpfung hat niemand Schaden zuzufügen. Nicht mehr lange und die Umwelt ist dank deiner Wissenschaftler, Waschmitteln und Autos dem Untergang geweiht! Bald ist die Erde wieder wüst und leer. So, wie die Götter unsere Erde vorgefunden haben.“
„Und die Fee, die mir gegenübersitzt, eine alte stinkende Karre fährt, und die Wissenschaft verurteilt, rettet die Welt vor der Apokalypse?“
„Von mir aus. Laufe jetzt gerne auf der Stelle zurück nach Hause in dein von miefenden Vehikeln und Reinigungsmitteln verseuchtes Paris!“
„Tut mir leid, das mit der ausgedienten Möhre ist mir so raus gerutscht!“
Die Tante schaut hinaus auf den ehemaligen See. Die Ebbe hat eingesetzt und die Furt zur Insel zeichnet sich deutlich ab. In der Strömung zwischen den Buhnen üben Paddler den Umgang mit den Kräften der Natur.
„Ich fahre den Schrotthaufen, bis dieser auseinanderfällt, um dem größten Übel, der Profitgier, entgegenzutreten. So ein Auto führe fünfzig Jahre und mehr. Wenn Konzerne Interesse am Naturschutz hätten, wären alle Teile in Modulen verbaut, die eine Werkstatt bei Defekt oder technischer Weiterentwicklung bequem austauscht.“
„Das ist ein Denkfehler! Wie baust du in einen Oldtimer nachträglich Airbags, Sicherheitsgurte, Kassettenrekorder, elektrische Fensterheber oder leistungsfähigere Motoren ein?“
„Das ist gar nicht nötig! Früher sind die Menschen mit dem zufrieden gewesen, was der Einzelne besessen hat. Neid ist in den Dorfgemeinschaften verpönt gewesen und ist in extrem harten Fällen bestraft worden.“
„Wie viele sind ums Leben gekommen, weil die alten Fahrzeuge unzureichende Sicherheitsvorrichtungen gehabt haben? Aber um erneut auf die Artussage zurückzukommen: Woher weißt du so genau, was damals geschehen ist? Aufgrund der vagen Hinweise aus der Gralsgeschichte ist die Forschung nicht von der Authentizität der Überlieferungen überzeugt.
Die Orte lassen sich nicht finden und die Geschichte ist vermutlich nur ein Idealbild des Mittelalters gewesen.“
Louane schüttelt unablässig den Kopf. Begreift der Junge nichts?
„Weil die Wissenschaft in England, Irland oder Skandinavien und nicht in der Bretagne nach den Fakten sucht! In den Köpfen der Bevölkerung ist weit mehr überliefert als in allen Büchern der Welt!“
„Von wem ist das Zitat? Einstein? Wallenstein? Freiherr von Stein?“
„Von Merlin persönlich, der gewusst hat, wie manipulierbar geschriebene Worte sind!“
„Soviel ich weiß, sind von ihm keine Aufzeichnungen vorhanden!“
„Wir kennen jedes Wort von unserem göttlichen Meister! Diese sind bis heute mündlich weitergegeben.“
„Ach! Merlin ist göttergleich gewesen?“
„Sein Vater ist der Teufel und die Mutter eine Gläubige.“
„Meinst du den drei Meter aufragenden Darth-Vader-Verschnitt, dem ich in Paris begegnet bin?“
Marcel schaut in weit aufgerissenen Augen.
„Jetzt überraschst du mich!“
„Vor dem Louvre ist bei Nacht so eine Art Ufo gelandet und der Gigant ist ausgestiegen.“
„Wenn der Herr der Finsternis dich bemerkt hat, bist du in großer Gefahr! Der hohe Herr hasst Zeugen, die nicht zu den Auserwählten zählen.“
„Du glaubst mir?“
„Warum nicht? Nur weil die Geschichte für normale Charakteren unglaubwürdig klingt?“
„Da sind Uniformierte mit Glatzen und kleinen Ohren aufgetaucht.“
„Das sind die Nachkommen seiner Brut! Nimm dich vor denen höllisch in Acht! Ich habe bei anderer Gelegenheit von der heimlichen Armee gehört.“
Der Junge runzelt die Stirn. Bringt die Tante die Zeiten nicht arg durcheinander?
„Was haben Menschen von heute mit der Spätantike zu schaffen?“
„Die Götter versuchen seit Anbeginn der Menschheit, uns für ihre territorialen Machenschaften zu missbrauchen. In jener Zeit sind die Franken die »Kleinohren« gewesen. Für den Diabolus existiert die Zeit nicht! Ich warne dich vor den Häschern!“
„Einer ist mir bis in den Zug gefolgt. Ich bin ihm nur knapp entkommen!“
„Ich habe mich über dein vorzeitiges Aussteigen gewundert. Jetzt ist mir so einiges klar. Große Vorsicht ist geboten! Am besten rufst du die Eltern aus einer Telefonzelle an. Und nur, wenn wir unterwegs sind.“
„Übertreibst du nicht ein bisschen?“
„Alle Telefongespräche laufen über Paris durch die Telecom-Zentrale unter den Tuilerien. Dort bist du leicht zu lokalisieren.“
„Das ist technisch unmöglich! Alle Gespräche zu belauschen, erfordert eine Unmenge an Personal.“
„Der Teufel verfügt über Techniken, die du dir in deiner kühnsten Fantasie nicht auszudenken vermagst. Und selbst im Traum reicht Vorstellungskraft nicht aus, um sich den Umfang auszumalen. Ich habe eine Freundin, die in »Comper am See« wohnt. Was hältst du davon, wenn wir die Nachfahrin der Viviane besuchen?“
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