Ellen Wood
Das Geheimnis von East Lynne
Ellen Wood
Das Geheimnis von
East Lynne
Roman
Aus dem Englischen neu übersetzt von Sebastian Vogel
Unter dem Titel East Lynne
erstmals erschienen 1861.
Übersetzung © 2021 Sebastian Vogel
Umschlaggestaltung © Sebastian Vogel
Umschlagbild: pixabay.com
Die Übersetzung wurde gefördert durch ein Stipendium aus dem Kulturstärkungspaket des Landes Nordrhein-Westfalen.
Verlag: Sebastian Vogel
Erikaweg 5
50169 Kerpen
www.uebersetzungen-vogel.de
Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin
ISBN 978-3-754113-26-4
Inhalt
Kapitel 1: Lady Isabel
Kapitel 2: Das zerbrochene Kreuz
Kapitel 3: Barbara Hare
Kapitel 4: Ein Gespräch im Mondschein
Kapitel 5: Mr. Carlyles Kanzlei
Kapitel 6: Richard Hare, der Jüngere
Kapitel 7: Hausherrin Miss Carlyle
Kapitel 8: Mr. Kanes Konzert
Kapitel 9: Lied und Totenklage
Kapitel 10: Die Wächter des Toten
Kapitel 11: Der neue Lord und die Banknote
Kapitel 12: Leben auf Castle Marling
Kapitel 13: Ein Spaziergang im Mondschein
Kapitel 14: Das Erstaunen des Earl
Kapitel 15: Heimkehr
Kapitel 16: Häusliche Schwierigkeiten
Kapitel 17: Der Besuch der Familie Hare
Kapitel 18: Miss Carlyle und die unglückliche Isabel
Kapitel 19: Captain Thorn in West Lynne
Kapitel 20: Fern von zuhause
Kapitel 21: Der Gefahr entgangen
Kapitel 22: Mrs. Hares Traum
Kapitel 23: Captain Thorn und die Rechnung
Kapitel 24: Richard Hare an Mr. Dills Fenster
Kapitel 25: Liebenswürdige Folgen
Kapitel 26: Für immer allein
Kapitel 27: Barbaras Vergehen
Kapitel 28: Ein unerwarteter Besucher in East Lynne
Kapitel 29: Eine nächtliche Invasion in East Lynne
Kapitel 30: Barbaras Herz kommt zur Ruhe
Kapitel 31: Mr. Dill und das bestickte Vorhemd
Kapitel 32: Die Begegnung von Lady Isabel und Afy
Kapitel 33: Sehnsüchte eines gebrochenen Herzens
Kapitel 34: Ein Abgeordneter für West Lynne
Kapitel 35: Ein Missgeschick mit der dunklen Brille
Kapitel 36: Ein russischer Bär in West Lynne
Kapitel 37: Mr. Carlyle wird zur Gänseleberpastete eingeladen
Kapitel 38: Die Welt steht Kopf
Kapitel 39: Mrs. Carlyle in großer Toilette, und Afy auch
Kapitel 40: Das Gerichtszimmer
Kapitel 41: Standhaft!
Kapitel 42: Der Prozess
Kapitel 43: Das Sterbezimmer
Kapitel 44: Lord Vane und der Aufschub
Kapitel 45: „Daraus wird nichts, Afy!“
Kapitel 46: Bis zur Ewigkeit
Kapitel 47: I. M. V.
Kapitel 1 Lady Isabel
In einem Sessel der geräumigen, hübschen Bibliothek seines Wohnhauses saß William, Earl of Mount Severn. Seine Haare waren grau, die Glätte seiner breiten Stirn wurde durch vorzeitige Runzeln verunstaltet, und sein einstmals attraktives Gesicht trug die blassen, unverkennbaren Spuren der Ausschweifung. Einer seiner Füße ruhte, in Leinentücher gehüllt, auf dem weichen Samt der Ottomane und sprach so deutlich von Gicht, wie jemals ein Fuß davon gesprochen hatte. Wenn man den Mann ansah, wie er dort saß, hatte es den Anschein, als sei er vor der Zeit gealtert. So war es auch. Er zählte knapp neunundvierzig Jahre, aber in allem außer den Jahren war er ein alter Mann.
Eine bekannte Gestalt war er gewesen, der Earl of Mount Severn. Er war zwar weder ein angesehener Politiker noch ein großer General oder ein herausragender Staatsmann, ja nicht einmal aktives Mitglied im Oberhaus; all das waren nicht die Gründe, warum der Name des Earl in aller Munde gewesen war. Vielmehr kannte die Welt den Lord Mount Severn als Leichtsinnigsten unter den Leichtsinnigen, als Verschwenderischsten unter den Verschwendern, als größten aller Spieler und Lebenslustigsten, der die Lebenslustigen übertraf. Man sagte, seine Schwächen seien die in seinem Kopf; ein besseres Herz oder eine großzügigere Seele habe nie in einem menschlichen Körper gewohnt; und darin steckte viel Wahres. Für ihn wäre es gut und richtig gewesen, hätte er einfach als William Vane gelebt und sein Leben beendet. Bis zu seinem fünfundzwanzigsten Jahr war er fleißig und beständig gewesen, war seinen Verpflichtungen in der Juristenschule nachgekommen und hatte von früh bis spät studiert. Der nüchterne Fleiß von William Vane war unter den angehenden Anwälten in seiner Umgebung zu einem geflügelten Wort geworden; den Richter Vane nannten sie ihn ironisch; und vergeblich strebten sie danach, ihn in den Müßiggang und das Vergnügen zu locken. Der junge Vane war ehrgeizig und wusste, dass er sich mit seinem Aufstieg in der Welt auf seine eigenen Begabungen und Bestrebungen verlassen musste. Er kam aus einer guten, aber armen Familie und zählte den alten Earl of Mount Severn zu seinen Verwandten. Der Gedanke, dass er die Nachfolge in der Grafenwürde antreten könnte, kam ihm nie: Zwischen ihm und dem Titel standen drei gesunde Leben, zwei davon jung. Und doch waren diese weggestorben – einer am Gehirnschlag, einer in Afrika am Fieber, der dritte beim Bootfahren in Oxford; und so fand sich William Vane, der junge Student aus dem Temple, plötzlich als Earl of Mount Severn wieder, und als rechtmäßiger Bezieher von sechzigtausend im Jahr.
Als erstes kam ihm der Gedanke, er werde nie in der Lage sein, das Geld auszugeben, ja man könne gar nicht Jahr für Jahr eine solche Summe verbrauchen. Es war ein Wunder, dass die Beweihräucherung ihm nicht von vornherein den Kopf verdrehte, denn alle Klassen, von einem königlichen Herzog an abwärts, umschwärmten, umschmeichelten und hätschelten ihn. Er wurde zum attraktivsten Mann seiner Zeit, zum Löwen in der Gesellschaft; denn unabhängig von seinem frisch erworbenen Wohlstand und Titel war er von distinguiertem Aussehen und faszinierenden Manieren. Aber leider ließ die Klugheit, die William Vane, dem armen Studenten der Rechtswissenschaft, in seinen einsamen Kammern im Temple innegewohnt hatte, den jungen Earl of Mount Severn völlig im Stich, und er nahm seine Laufbahn mit einer solchen Geschwindigkeit in Angriff, dass alle biederen Menschen sagten, er werde sich Hals über Kopf ruinieren und zum Teufel gehen.
Aber als Angehöriger des Hochadels, dessen Erträge bei sechzigtausend pro Jahr liegen, ruiniert man sich nicht von einem Tag auf den anderen. Jetzt, in seinem neunundvierzigsten Jahr, saß der Earl in seiner Bibliothek, und der Ruin war immer noch nicht eingetreten – das heißt, er hatte ihn nicht überrollt. Aber die Verlegenheiten, in denen er sich befand und die sowohl zur Zerstörung seiner Seelenruhe geführt hatten als auch das Verderben seiner Existenz gewesen waren – wer kann sie beschreiben? Die Öffentlichkeit wusste recht gut darüber Bescheid, seine privaten Freunde kannten sie noch besser und seine Gläubiger am besten; aber niemand außer ihm selbst wusste oder konnte auch nur ahnen, welche beunruhigenden Qualen sein Los waren und ihn beinahe in den Wahnsinn trieben. Hätte er den Dingen vor Jahren geradewegs ins Gesicht gesehen und gespart, er hätte seine Position wiedergewinnen können; aber er hatte getan, was die meisten Menschen in solchen Fällen tun, hatte den Tag der Wahrheit auf unbestimmte Zeit vertagt und seine ungeheure Liste der Schulden weiter verlängert. Jetzt rückte die Stunde der Offenbarung und des Ruins unaufhaltsam heran.
Vielleicht dachte der Earl das auch selbst angesichts einer riesigen Masse von Papieren, die sich vor ihm über den Bibliothekstisch verteilten. Seine Gedanken weilten in der Vergangenheit. Es war eine törichte Verbindung gewesen, eine Gretna-Green-Verbindung der Liebe wegen, töricht, soweit die Klugheit reichte; aber die Gräfin hatte ihm als liebevolle Ehefrau zur Seite gestanden, hatte seine Torheiten und seine Nachlässigkeit ertragen, war für ihr einziges Kind eine bewunderungswürdige Mutter gewesen. Nur ein Kind hatten sie bekommen, und in dessen dreizehntem Jahr war die Gräfin gestorben. Wären sie mit einem Sohn gesegnet gewesen – über die langjährige Enttäuschung stöhnte der Graf noch heute –, er hätte vielleicht einen Ausweg aus seinen Schwierigkeiten gefunden. Sobald der Junge volljährig gewesen wäre, hätte er in gemeinsamer Anstrengung mit ihm die Kosten reduziert, und …
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