1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 „Hallo Kathie, ich bin‘s, Nelli. Störe ich gerade?“
„Hi Nelli. Wie würdest du es bezeichnen, wenn du beim Bumsen angerufen wirst und der Anrufer hartnäckig in der Leitung bleibt?“
„Oh, Entschuldigung, ich wusste nicht, dass …, tut mir leid, das war nicht meine Absicht, dich zu …“
„Ist schon okay, nicht so schlimm. Schön, dass du dich mal wieder meldest. Was gibt es denn?“
Nelli druckste herum und war sich in keinster Weise mehr sicher, ob es der richtige Zeitpunkt war, Kathie jetzt mit ihrem Frust und ihren Sorgen zu belasten.
„Na komm, raus mit der Sprache“, forderte Kathie sie auf. „Da bringst du mich mit deinem Anruf um meinen wohlverdienten Orgasmus, und dann bist du stumm wie ein Fisch! So geht das nicht. Also, nun sprich endlich mit mir!“
Nelli konnte ihre Gefühle nicht mehr zurückhalten. Sie weinte und sie ließ ihren Frust ab. Kathie hörte aufmerksam zu und unterbrach sie kein einziges Mal. Eine Stunde telefonierten die beiden Freundinnen miteinander. „Du musst einfach mal raus aus deinem Alltagstrott“, riet ihr Kathie. „Du lebst wie im Schloss von Dornröschen, aber ein schöner Prinz wird nicht von selbst vorbeikommen, glaube mir. Höchstens ein lispelnder, mit Pickel und Pomade im Haar. Pass auf, du kommst Silvester zu mir und übernachtest hier. Tom gibt mit seiner Band ein Konzert in Straubing. Ich bin sowieso allein. Komm, wir machen uns einen schönen Abend und quatschen über alles. Außerdem habe ich etwas ganz feines zuhause. Das wird dich umhauen.“
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Die Weihnachtsfeiertage waren schnell vorüber. Pünktlich um achtzehn Uhr klingelte Nelli bei Kathie Schreiber, Am Europakanal 165. Der Türöffner summte und Nelli fuhr mit dem Aufzug in das fünfzehnte Stockwerk hoch. „Komm rein, Nelli“, begrüßte Kathie sie, nachdem sie die Wohnungstür geöffnet hatte, „schön, dass du gekommen bist. Komm, leg ab. Ich habe uns beim Italiener zwei Pizzen bestellt, Quattro Staggioni und Ai Funghi , müssten in einer Stunde da sein. Komm, setz dich und mach es dir bequem. Ich hole uns eine Flasche Chianti.“
Die Stunden verrannen wie im Flug. Die Pizzen waren hervorragend, die Wanduhr zeigte kurz vor dreiundzwanzig Uhr an, und Kathie Schreiber öffnete die dritte Flasche Rotwein. „Nun kommt das Beste!“, verkündete die Hausherrin mit inzwischen schwerer Zunge, „unser Nachtisch sozusagen. Der wird uns wieder aufmuntern.“ Sie wankte zu einem Sideboard und entnahm der linken unteren Schublade ein kleines Fläschchen, in welchem sich ein kristallenes Pulver befand. Dann holte sie aus der Küche ein Päckchen Würfelzucker, ein Glas halb voll Wasser und einen Teelöffel. Zurück am Sofa konzentrierte sie sich, gab eine winzige Menge des Pulvers auf den Teelöffel, löste es mit wenigen Tropfen Wasser auf und schüttete die Flüssigkeit vorsichtig über ein Stück Würfelzucker. Nelli verfolgte neugierig die Zeremonie. „Was ist das?“, wollte sie wissen.
„Tz, tz, tz, wer lang fragt, geht lang irr“, antwortete Kathie. „Mund auf!“, wies sie Nelli an. „Zweihundert Mikrogramm dürften für dich genügen. Ich nehm mir etwas mehr“, kicherte sie.
Nachdem Nelli gehorsam den Würfelzucker aufgelutscht hatte, wiederholte Kathie die Prozedur und steckte sich ebenfalls ein Stück Würfelzucker in den Mund. „LSD“, erklärte sie. „Keine Sorge, macht nicht süchtig, aber total high. Frisch aus Hongkong eingetroffen. Das Beste, was es derzeit auf dem Markt gibt, du wirst staunen.“
Die beiden jungen Frauen setzten ihre Unterhaltung fort, schlürften dabei den Rotwein und schwelgten in Erinnerungen an die alten, gemeinsamen Schulzeiten. Nach einer weiteren halben Stunde meinte Nelli Bieber: „Ich meine, dein Superstoff ist ein Flopp. Scheint gar nicht zu wirken. Da hast du dir aber was andrehen lassen.“
Doch da täuschte sich die Jurastudentin gewaltig. Das Lysergsäurediethylamid war bereits voll unterwegs. Es dauerte noch exakt sieben Minuten, bis die synthetische Chemikalie im limbischen und retikulären Systems ihres Gehirns ankam – dort wo die emotionalen Reaktionen auf äußere Sinnesreize gesteuert werden – und seine volle Wirkung zeigte. Das LSD explodierte regelrecht in Nellis Kopf, wie eine Unterwasserbombe in der Nähe eines getauchten U-Boots. Ihr Gehirn wurde durcheinander geschüttelt. Ihre Pupillen vergrößerten sich schlagartig. Sie kicherte wie eine Zwölfjährige beim ersten Kuss, während ihr Energiespiegel raketenartig anstieg.
Ihre Freundin Kathie glotzte sie mit tellergroßen Augen über den Couchtisch hinweg an und drehte ihren Kopf wie ein Uhu in alle Richtungen. Dort, wo sonst ihre Nase saß, war ihr ein gelber Hakenschnabel gewachsen. „Hi, hi, du siehst aus wie eine Eule“, wieherte Nelli.
„Ich bin eine Eule, ich bin eine Eule“, uhute Kathie zurück, stieg auf einen Stuhl und schlug mit den Armen. „Ich kann fliegen.“
Nelli überfiel ein plötzlicher, heftiger Schweißausbruch. Das Zimmer schien sich zu drehen, und Justus von Weihersbach schritt aus einer dichten Nebelwand. Hinter ihm folgte ihre Mutter aus dem weißen Dunst. Justus war seltsam gekleidet. Auf seinem Kopf thronte ein kanariengelber Zylinderhut. Sein schmächtiger Körper steckte in einem lilafarbenen Smoking mit weißen Flecken. Er sah aus wie die Milka-Kuh auf der Alm. In seinem Gesicht blinkten die Pickel wie tausend rote Ampeln. Ihre Mutter sang ständig: „Hosianna, Hosianna“ und trug ein weißes Kissen vor sich her, auf welchem zwei Trauringe lagen. Wie aus dem Boden gezaubert stand plötzlich ihr Uni-Professor, der alte Hubertus Jennerwein vor ihr, hielt das Strafgesetzbuch in der Hand und rezitierte mit seiner dünnen Fistelstimme: „Paragraph eins: Juristen sollst du keine freien, wirst es dir sonst nie verzeihen.“
„Hosianna, Hosianna“, klang es aus dem dichten Nebel.
„Paragraph zwei“, erklang die Fistelstimme wieder, „Wer gegen dies Gesetz verstößt, mit Qualen in der Hölle röst.“
Zwischen Professor Jennerwein und Justus von Weihersbach hüpfte plötzlich die Eule Kathie umher. „Mir ist so heiß“, krächzte sie, hüpfte wieder auf ihren Stuhl und ging in die Hocke. Sie wähnte sich im Zauberwald und saß auf dem mächtigen Ast einer gewaltigen Buche. Drunten auf der Erde, gleich neben dem Lebkuchenknusperhaus, stieß Hänsel die böse Hexe gerade in das Feuer ihres eigenen Backofens. Gretel, Dornröschen und Schneewittchen winkten aus dem Fenster des Lebkuchenhauses und riefen „hau ruck, hau ruck“, bis die böse Hexe vollkommen in den lodernden Flammen verschwand. Dann erschien plötzlich der Gestiefelte Kater auf der Szene. Im Schlepptau hatte er Rumpelstilzchen mitgebracht. „Das hast du gut gemacht“, lobte er Hänsel, „die Alte ging mir mit ihrer ständigen Hexerei sowieso gewaltig auf den Sack. Sieh nur, dort oben in der Buche sitzt ihre vermaledeite Eule. Komm, Rumpelstilzchen, die holen wir uns auch noch.“
Kathie, die Eule, sah von ihrem Stuhl hinab auf den Waldboden und erschrak, als der Gestiefelte Kater mit seiner Pfote zu ihr herauf zeigte. Dann verschwanden die beiden.
„Ritze ratze, ritze ratze, mit der Säge kommt die Katze. Mit der schweren Motorsäge, dass der Baum am Boden läge“, schall es nur wenige Minuten später durch den Wald. Der Gestiefelte Kater und Rumpelstilzchen kehrten zurück.
Mehr als eine Stunde lang schlugen sich Nelli Bieber und Kathi Schreiber bereits mit ihren Wahnvorstellungen, Angstzuständen, Panikanfällen, Schwindelgefühlen, Bewusstseinsstörungen und Halluzinationen herum, als das tödliche Ereignis unaufhaltsam seinen Lauf nahm.
Kathie, die Eule, war von ihrem Ast heruntergehüpft, bevor die hohe Buche mit Getöse in sich zusammenbrach. Der Gestiefelte Kater stellte die Motorsäge ab und jubelte. Rumpelstilzchen führte vor lauter Freude einen Veitstanz auf. Kathie starrte mit großen Augen auf die beiden. Sie musste ihnen entkommen. Einfach davonfliegen. Panikartig riss sie die Balkontüre auf und schlug probehalber mit ihren mächtigen Schwingen. Dann hüpfte sie auf das Balkongeländer. Unter ihr gähnte der nächtliche Abgrund. Die Freiheit lag ihr friedlich zu Füßen. Als der Gestiefelte Kater und Rumpelstilzchen aus dem Wohnzimmer auf den Balkon gerannt kamen, breitete sie ihre Flügel aus und stieß sich ab. Sie flog, wie sie es von ihrer Mutter gelernt hatte. Der Wind zerrte an ihrem Gefieder. Absolute Freiheit.
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