Am Ende der Kata nimmt man die gleiche Haltung ein. Dies ist das Yame bzw. Naore , die Rückkehr in die Position Yoi . Danach werden die Füße in den Musubi dachi zusammengeführt – erst wird der rechte, dann der linke Fuß in Richtung Mitte gesetzt. Man entspannt sich ( Yassme ) und grüßt wie zu Beginn. Am Ende richtet man sich wieder auf.
Anmerkung: Manche Experten versetzen sowohl bei der Eröffnung als auch beim Abschluß der Kata lediglich den rechten Fuß, der linke bleibt nach dem Gruß bzw. der letzten Bewegung der Kata an seinem Ort. Im Gôjû-ryû, aber auch in manchen Kata anderer Stilrichtungen – was deutlich die gemeinsamen Ursprünge zeigt – beginnt die Kata oft unmittelbar nach dem Gruß, während man sich noch in der Position Musubi dachi befindet.
Es ist bedauerlich, daß für viele Karateka die Kata letztendlich nichts weiter bedeutet als eine Abfolge von Techniken, die unter praktischen Gesichtspunkten, der Eignung für den Kampf, beurteilt werden, und dies unter dem Aspekt ihrer offenkundigen Anwendungsmöglichkeiten, der elementaren Bunkai . Solch eine formelle Herangehensweise wirkt sich verarmend auf die Welt der Kata aus. Darüber hinaus geschieht es oft, daß man die Techniken der Kata ausführt, ohne zu verstehen zu versuchen, wie man sie im realen Kampf anwenden kann. Das kann aus der Gewohnheit heraus geschehen oder aus Desinteresse, zumal es oft um nichts weiter geht, als durch das Ausführen der Kata höhere Graduierungen zu erhalten. Manch einer geht sogar so weit, daß er nach einem möglichen Nutzen der Kata gar nicht mehr fragt, überzeugt davon, daß Kata und Kumite sehr verschiedene Angelegenheiten sind. Wird die Kata aber nur noch als sportliche Übung betrachtet, als Krafttraining oder ästhetische Vorstellung, dann besteht die Gefahr, daß sie eines Tages verschwindet. Führt eine Gruppe von Karateka sie vor – mitunter gar zu Musik! –, so ist sie schön und spektakulär anzusehen … und doch nichts weiter als eine sinnentleerte Hülle, dazu bestimmt, von Außenstehenden beurteilt zu werden.
Im alten Okinawa wurde die Kata im Verborgenen geübt, denn sie mußte für die Vorbereitung auf den Kampf wirksam bleiben. Man sah sich entschlossenen Gegnern gegenüber, und es war von entscheidender Bedeutung, über Techniken zu verfügen, die der Gegner nicht bereits ausspioniert hatte. Man beschränkte sich auf das Wesentliche. Um das zu erreichen, wurden wenig spektakuläre, von allem Überflüssigen befreite Bewegungsabläufe und Haltungen geübt. Die Kata war vor allen Dingen Kampf. Sie war Waffe und innerer Weg, eine technische Grundlage, der eines Tages das Authentische entspringen würde.
Ginge es lediglich um technische Aspekte, den Kampf, oder um sportliche Aspekte, den Wettkampf im Karate, könnte man mit gutem Grund die traditionellen Kata links liegen lassen. Denn auf technischer Ebene waren diese Kata oft recht beschränkt. So gesehen, ist es gerechtfertigt, neue Kata zu schaffen, die technisch gesehen vollständiger sind, da sie neuartige Situationen berücksichtigen, wie z. B. den Straßenkampf mit in Kampfkünsten erfahrenen Gegnern. Solches geschieht vor allem in vielen in den USA praktizierten Stilrichtungen. Doch hierbei handelt es sich um Karatejutsu, technisches Karate. Für das Karatedô, d. h., dem Karate als Weg, als Lebensphilosophie, wäre ein solcher Kompromiß unmöglich. Hier zählt der Gehalt, der Geist. Es geht nicht an, dessen Gefäß, die Form, zu verändern. Das Ziel der Kata des Karatedô besteht darin, denjenigen, der sie praktiziert, in den gleichen Gefühls- und Geisteszustand zu versetzen wie den Meister, der die Kata einst geschaffen hat. Ein Zustand, den der Meister für wert erachtet hat, durch die »Gebärdensprache« der Kata weitervermittelt zu werden. Unter diesem Gesichtspunkt kann das Akzeptieren einer modernen Kata nur eines bedeuten: daß man ihrem Schöpfer den Rang eines Meisters in der vollen Bedeutung des Wortes zuerkennt. Von diesem – durchaus möglichen – Ausnahmefall abgesehen, muß man sich strikt an die alten Formen halten. Die Kata muß so getreu wie möglich und mit einem Vertrauen, das schon an Naivität grenzt, geübt werden. Die Bedeutung dieser grundlegenden Einstellung für den Praktizierenden kann nicht genug betont werden. Was zählt, ist zu wissen, was man will und was man auf dem Weg dahin bereits erreicht hat.
Die Tatsache, daß die Kata zwei unterschiedliche Aspekte vereint, gestattet vielen Lehrenden, sich nicht für die eine oder andere Seite entscheiden zu müssen. Aber sie führt auch zur Verwirrung bei den Lernenden, und das schon oft auf dem Niveau der Weißgurte. So gesehen wäre es wünschenswert, wenn in Zukunft in jedem Dôjô klar festgelegt würde, welcher grundlegenden Art die Kata, die hier praktiziert werden, angehören. Hierbei darf natürlich nicht aus dem Auge verloren werden, daß ein jeder im Laufe seiner persönlichen Entwicklung eines Tages seine Vorliebe ändern kann. Dies zu akzeptieren, ohne den Betreffenden deshalb zu ächten, verlangt dem Lehrenden eine Toleranz ab, die auf guter Kenntnis der kulturellen Hintergründe dessen, was er lehrt, beruht, selbst wenn er diese vielleicht nicht in vollem Umfang akzeptiert.
Im folgenden sollen die drei Stufen erläutert werden, die den Fortschritt beim Praktizieren der Kata charakterisieren. Diese gelten gleichermaßen für das Karatedô als Ganzes.
Erste Stufe: Man konzentriert sich ausschließlich und gewissenhaft auf die Technik. Man handelt. Schnell bemerkt man, daß man vorankommt, was dem eigenen Ego schmeichelt. Dies ist die Stufe des Shu , der äußeren Imitation. Es ist die verbreitetste Stufe, selbst für höhergraduierte Karateka.
Zweite Stufe: Man konzentriert sich auf die Technik, indem das Handeln zurückgesetzt wird und indem die den Techniken innewohnenden Möglichkeiten erweitert werden. Äußerlich ist kein Fortschritt mehr sichtbar. Die Form der Kata erscheint sehr gelungen, wenn nicht sogar vollendet. Was die innere Entwicklung angeht, so beginnt man tatsächlich, sein Ego zu vergessen. Dies stellt den Beginn der Entkopplung von Körper und Geist dar, die uns einen neuen Eindruck der Freiheit in der codierten Handlungsfolge vermittelt. Die Form wird nicht länger als »Zwangsjacke« empfunden. Dies ist die Stufe des Ha , der inneren Schöpfung, die höchste Stufe auf technischem Gebiet. Man hat seinen Meister erreicht, denn man hat nun Zugang zu allem, was dieser an Äußerem in die Kata gelegt hat. Die geistige Arbeit, die das Erreichen dieser Stufe voraussetzt, ist ermüdend und belebend zugleich. Das erzielte Ergebnis läßt sich nicht quantifizieren, es ist tatsächlich nicht sichtbar. Nur der Praktizierende selbst weiß, wo er sich nun befindet.
Dritte Stufe: Hierhin gelangt man nur ganz allein. Man denkt überhaupt nicht mehr an die Technik und doch wird sie mit größter Ernsthaftigkeit ausgeübt. Körper und Geist sind voneinander abgekoppelt. Paradoxerweise sagt man auch, daß nun eine Art Vereinigung von Körper und Geist erreicht wird. Man handelt, ohne etwas zu denken. Allenfalls denkt man vielleicht an irgend etwas anderes als an die Handlung. Eine Muskelkontraktion verlangt keine »Kontraktion« im Geist mehr. Man macht eine kraftvolle Bewegung, doch zugleich ist der Geist vollkommen ruhig. Jetzt wird die echte innere Arbeit möglich, die im Satori gipfeln kann, dem Erwachen, der »Rückkehr zur kosmischen Einheit« des Zen. Der Kampf ist etwas geworden, was sich außerhalb abspielt. Dies ist die Stufe des Ri .
Die Stufe des Ri zu erreichen bedeutet, die innere Entwicklung abzuschließen, ihren Höhepunkt zu erreichen. Das wirkliche Selbst ist erwacht. Man erlebt die Kata auf eine neue und sehr persönliche Weise. Die Freiheit ist wiedergefunden worden, und dies geschah durch codierte Bewegungen, was ein Paradoxon zu sein scheint. Die Kata wird gemäß den eigenen Vorstellungen »von innen« neu geschaffen, nachdem es zu einer Art wechselseitiger Durchdringung mit der auferlegten Form gekommen ist. Die Kata beginnt wieder zu leben. Auch wenn es nach außen hin nicht so scheint, hat die Kata nur noch sehr wenig mit dem zu tun, was man in der ersten Stufe praktizierte. Und erst jetzt ist man in der Lage, seine eigene Kata zu schaffen, wie dies einst mit dem Einverständnis und unter Berücksichtigung der Ratschläge des Meisters geschah.
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