Als Funakoshi Gichin 1922 nach Japan kam, brachte er lediglich 15 Kata mit sich: die fünf Heian , die drei Tekki , Bassai dai , Kankû dai , Jion , Jutte , Enpi , Hangetsu und Gankaku . Die anderen heute im Shôtôkan-ryû praktizierten Kata wurden später hinzugefügt. Manche davon wurden anderen Stilrichtungen entnommen, die heute die Herkunft für sich reklamieren. Das führt nicht selten zu Konflikten hinsichtlich der »Orthodoxie« der Kata.
Um in dieser Hinsicht mehr Klarheit zu gewinnen und um gemeinsame Nenner für die vielen »Katameisterschaften« zu finden, schuf man im Jahre 1986 das System der Shitei kata : Jeder der vier Hauptstile sollte seine beiden repräsentativsten und bekanntesten Kata auswählen, die als Grundlage für Meisterschaften dienen sollten und darüber hinaus auch für die offiziellen Lehrsysteme der Stile und die entsprechenden Gürtelprüfungen. Die folgenden Kata wurden ausgewählt:
Für den Shotokan-ryû die Kata Jion und Kankû dai , für den Wadô-ryû die Kata Seishan und Chintô , für den Shitô-ryû die Kata Seienchin und Bassai und für den Gôjû-ryû die Kata Seipai und Saifa .
Jede Bewegung einer Kata hat ihren Sinn, ihre Interpretation: das Bunkai . Mitunter ist das Bunkai offensichtlich, manchmal schwer zu erkennen, mitunter sogar trügerisch. Die jeweilige Vorläufer- und Nachfolgetechnik kann helfen, es aus dem Ablauf heraus zu verstehen, aber auch das Niveau des Praktizierenden – vor allem das geistige, weniger das physische – ist für das Verständnis von Bedeutung. Jeder Karateka, der hinreichend lange trainiert, wird erkennen, daß seine Möglichkeiten, die Bunkai zu begreifen, sich mit der Zeit verändern. Zunächst unverständliche Sequenzen in den Kata werden nach einigen Jahren der Praxis und des Nachdenkens immer klarer. Zu Beginn muß man sich mit dem vorgegebenen Schema zufriedengeben. Dieses erscheint einem schon bald als unvollständig, und doch muß man sich lange Zeit gründlich damit befassen, sich genau danach richten. Später wird einem das Schema der Bunkai als eine Möglichkeit von mehreren erscheinen, und eines Tages hat man sein persönliches Bunkai gefunden – doch ohne auch nur das mindeste an den Techniken selbst zu ändern! Man darf nicht vergessen, daß die Kata auch eine Art Rätsel ist, damit, auch wenn man sie unermüdlich wieder und wieder übt, der Geist niemals einschlummert. Es gibt sogar echte Fallen, die den Praktizierenden von wirklichem Verständnis abhalten, doch auch diese erkennt man erst mit der Zeit. Dies ist Teil der fernöstlichen Lehrprinzipien und kann unserer westlichen Geisteshaltung als übertrieben erscheinen. Doch solche Dinge selbst zu entdecken, allen Widrigkeiten zum Trotz, ist ein unvergleichlicher Lohn.
Man sollte niemals eine Bewegung einer Kata ausführen, ohne dabei das entsprechende Bunkai im Sinn zu haben, und dies wiederum entsprechend dem erreichten Niveau. Es ist aber wichtig, immer weiter zu forschen. Mit der Zeit wird das Bunkai sich ändern. Es ist auch von Vorteil, von Zeit zu Zeit Bunkai kumite zu üben, bei dem zusammen mit einem Partner bestimmte Kata-Passagen praktiziert werden. Dabei sollte man so nah wie möglich an der Kata bleiben. Ist einem das nicht möglich, so sollte man lieber ein anderes Bunkai auswählen. Niemals sollte man sich jedoch berechtigt fühlen, die Kata zu verändern! Es gibt keine zwei Arten Karate, eine für den Kampf und eine der Kata. Tatsächlich existiert für jede Technik eine praktische und realistische Anwendung. Doch vor allem darf nie vergessen werden, auch das zu suchen, was sich hinter der Technik verbirgt.
Dieser im Budô gebräuchliche Ausdruck bedeutet »eine Kata in drei Jahren«. Sein Sinn ist klar: Man studierte eine Kata mindestens drei Jahre lang, bevor man sich der nächsten zuwandte. Auch im chinesischen Boxen gibt es einen alten Sinnspruch, der besagt, daß man drei Jahre braucht, um die Position zu erlernen, drei weitere Jahre, um sich die eigentliche Technik anzueignen und schließlich noch drei Jahre, um ein Gefühl für die Bewegung zu entwickeln. Solche Formulierungen stellen zwar bewußte Übertreibungen dar, aber sie sollen verdeutlichen, daß die oberflächliche Annäherung an eine Kata nutzlos ist. Früher war es üblich, daß große Experten nicht mehr als drei oder vier Kata in ihrem Leben kennenlernten. Dies war mehr als ausreichend, um alles zu finden, was es darin zu entdecken gab. Es kann interessant sein, eine Vielzahl Kata zu kennen, da durch den Vergleich manches klarer werden kann und sie einander ergänzen können, aber tiefgründig sollte man sich nur mit einigen wenigen befassen, und dies das ganze Leben hindurch. Diese bevorzugten Kata sind die Tokui kata , die Lieblingskata des Karateka. Es geht nicht darum, alles über alle Kata zu erfahren – was zudem eine unmöglich zu lösende Aufgabe wäre. Es ist schon eine große Herausforderung und ehrgeizig genug, über eine einzige wichtige Sache alles herausfinden zu wollen. Je enger eine Tür erscheint, desto mehr wird man sich mühen, einzudringen.
Meister Mabuni Kenwa, der Gründer des Shitô-ryû, schrieb, daß es drei wesentliche Punkte bei einer Kata gibt: die vollendete Art der Ausführung, die beständige Kontrolle der Atmung und die Beherrschung des Schwerpunktes – zu all diesem sollte das innere Empfinden hinzukommen.
Auf jeden Fall muß man den Atem und die Bewegung miteinander in Einklang bringen. Eine schlechte Koordination führt schnell zu wachsender Erschöpfung, man wird schwächer, langsamer und verliert schließlich die Kontrolle über die Gefühle, die einen bei einem Kampf überkommen können – Angst, Wut, instinktive Reaktionen – und die, indem sie sich auf den Herzrhythmus auswirken, die eigene Handlung stören. Die Atmung ist offensichtlich mit dem der Kata innewohnenden Rhythmus verbunden, oder sie richtet sich nach persönlichen Auslegungen. Darüber in einem Buch zu sprechen ist schwierig, aber dennoch sollen hier einige Ratschläge mit Bezug auf bestimmte Atemphasen erteilt werden, doch diese sind keineswegs immer zwingend. Vieles ist möglich, doch alles hängt dabei vom Niveau des Praktizierenden ab.
Die erste Stufe besteht darin, daß jedesmal, wenn man eine Technik ausführt, kurz ausgeatmet wird, sei es bei der Verteidigung oder beim Angriff ( Kime 12). Dabei verharrt man kurz, was die Muskelkontraktion erleichtert. Am Beginn der Bewegung atmet man hingegen ein, was Entspannung und Schnelligkeit befördert. Doch auf einer fortgeschritteneren Stufe kann es interessant sein, genau das Gegenteil davon zu tun. Dies ist jedoch Bestandteil jener »Schlüssel für das Verständnis«, von denen weiter oben die Rede war. Eine leichter zu bewältigende Zwischenstufe kann darin bestehen, daß man bei einer Blocktechnik einatmet, so daß man sich dabei gewissermaßen ausdehnt, und bei einer Angriffstechnik ausatmet, wodurch man die Fokussierung der Kräfte begünstigt. Dennoch muß man zunächst mehrere Jahre lang auf der ersten Stufe verweilen, da diese den Vorteil hat, daß jede Bewegung durch den Atem verstärkt wird, indem das Kime erleichtert wird. Je nach dem Rhythmus und dem Umfang einer Technik gibt es fünf grundlegende Arten zu atmen:
a) Bei normalem Atem, ohne Unterbrechungen ( Jusoku )
1) Langes Einatmen – langes Ausatmen
2) Langes Einatmen – kurzes Ausatmen
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