„ …“
Schweigen.
Leon hippelte mit beiden Beinen auf dem Boden und fixierte äußerst konzentriert die Zimmerdecke. Er hatte sich mittlerweile in seine „Ich-bin-nicht-da-Welt“ gebeamt und somit das Gespräch beendet.
Na klasse – das hab ich doch mal wieder geschickt hingekriegt!
Kaum bin ich hier, liegen wir uns schon wieder in den Haaren.
Ob sich eigentlich so eine Spannungskurve, die eben steil nach oben schoss, wohl auch mit einer Kurvendiskussion berechnen lässt?
Wäre doch sicher ganz spannend, mal herauszufinden. Vielleicht mit den entsprechenden Koordinaten und einer mathematischen Formel: Also wenn z. B. der Erwartungsdruck der Mutter X wäre und im Verhältnis stünde zum Befindlichkeitswert Y des Sohnes, dann ließe sich unter Einbeziehung weiterer Werte und Schnittstellen vielleicht der Zeitpunkt im Voraus berechnen, wann die Spannungskurve steil ansteigt. Ich könnte dann in Zukunft ja kurz vorher auf die Toilette gehen oder zum Bäcker. Das wäre vielleicht ein Erfolg versprechender pädagogischer Ansatz!
Vermutlich aber nur für Herrn Einstein und ähnlich lichte Geister praktikabel.
Ich werde es wahrscheinlich doch anders lösen müssen.
„Hey, Leon“, lenkte sie schließlich ein, „wollen wir uns nicht wieder vertragen?
Um zu grummeln ist unsere Zeit eigentlich zu schade. Es tut mir Leid wegen vorhin. Ich weiß, dass es kein Weg ist, so miteinander zu reden. Komm, erzähl mir lieber, was du gerade so machst und denkst.“
„Schon in Ordnung, kein Ding.“
Leon machte eine abwehrende Bewegung. Auch er wollte keinen Streit mit seiner Mutter und wechselte das Thema.
„Ich kann dir ja mal meine neue CD vorspielen. Hab ich die ganze Woche schon laufen lassen, hör mal! Gefällt’s dir?“
Leon schob eine CD in die Anlage und spielte Gerdi seine Lieblingssongs daraus vor. Sie hatte es sich auf Leons Bett bequem gemacht und hörte zu. „Und“, fragte Leon, „wie findest du’s?“
Gerdi schwieg einen Moment, bevor sie Leon antwortete:
„Naja, also, die Musik find ich nicht schlecht. Der Part mit der Klaviermusik im Hintergrund gefällt mir sogar ganz gut. Aber weißt du, Leon, dieser rohe und verachtende Text, der manchmal so abartig brutal rüberkommt, ist einfach heftig. Was soll sich denn daraus an Veränderung ergeben? Und wohin soll das führen, wenn nicht zu Hass und Gewalt?“
Leon verdrehte die Augen.
„Okay, du verstehst es einfach nicht!“, entgegnete er genervt.
„Oh, Mann! Es geht doch nicht darum, Hass und Gewalt zu erzeugen, sondern zu zeigen, dass genau das die Situation von vielen Jugendlichen ist. Dass es eben scheiße ist, so wie’s läuft. Dass vielleicht schon die Alten keine Arbeit haben und die Kids eben auch keinen Job kriegen, weil sie unter völlig miesen Bedingungen leben. Und Viele haben einfach keine andere Chance, als sich mit Dealen ihre Kohle zu verdienen oder indem sie irgendwelche Dinger drehen.“
„Ja, ja, ja, ist ja gut“, entgegnete Gerdi, „einesteils mag es vielleicht stimmen, was du da sagst. Aber andernteils stimme ich dir überhaupt nicht zu. Denn das, was du beschreibst, ist in gewisser Weise auch ein Klischee, das hier bedient wird.
Armut und Elend gab es doch schon immer und überall! Und trotzdem reagieren nicht alle Menschen gleich. Jeder Mensch bestimmt in jeder Situation, wie er sich entscheidet und wie er handelt, ob bewusst oder unbewusst, ob klug oder dumm, das sei mal dahingestellt. Aber er trifft seine eigene Entscheidung!
Und was ich bei dem, was du mir erzählst, vermisse, ist die eigene Haltung, die in eine andere Richtung weist.
Verstehst du, Leon, wenn ich Drogen verchecke und mich einen Dreck drum schere, dass ich andere damit ins Elend reiße, reagiere ich doch nach den gleichen Mustern, die andererseits aber angeprangert werden.“
Leon schüttelte den Kopf und sah seine Mutter an.
„Welche Muster? Ich versteh überhaupt nicht wovon du redest?“
Es war wie so oft – ihre Worte liefen aneinander vorbei.
Es war mühsam, eine Sprache zu finden, in der sie einander verstehen konnten. Für beide schien es so zu sein. Dabei war gerade die Musik oft ihr gemeinsamer Anknüpfungspunkt. Ihre wirklich guten Gespräche entstanden meist, wenn sie zusammen Musik hörten, – Leons Musik –, auf der Fahrt zur Schule oder wenn Gerdi, genervt über Leons Unordnung, in sein Zimmer polterte. Fast immer waren es kleine belanglose Alltagssituationen, die durch die Musik und ihre Auseinandersetzung darüber eine Bedeutung bekamen.
Hip Hop, Rap, „Gangsta“-Musik – manchmal stellten sich Gerdis Nackenhaare auf, wenn stumpfer Hass und ein verachtender Sexismus sie in dieser widerlich verrohten Sprache ansprangen. Dann zog sie schon auch mal ohne Diskussion das Kabel aus der Steckdose.
Aber neben all dem gab es auch noch etwas anderes, was bei diesen obercoolen Jungs mit dem finsteren Outfit mitschwang. Sie wusste, dass es falsch wäre, nicht hinzuhören, welche Aussage sich hinter ihrer Ghetto-Sprache verbarg. Diese Jungs waren schließlich Kinder unserer Zeit – Kinder einer Gesellschaft, deren Spiegelbild sie auf ihre Art und Weise zurückwarfen.
Und nichts anderes tat Leon.
Gerdi dachte zurück an die Zeit vor einem Jahr, als kaum ein Tag vergangen war, an dem nicht stundenlang die finstersten Rap-Songs aus den Lautsprechern dröhnten und bleischwere Videoclips über den Bildschirm flimmerten.
Fast war es ein schizophrenes Bild, in dem sich Gerdi mit ihrem Sohn gefangen sah. Vor dem Fenster schönste Landschaft, in der zufrieden im Zeitlupentempo Kühe auf der Weide grasten. Idylle pur!
Und drinnen im Zimmer tobte der Krieg im Dschungel der urbanen Vororte über die Mattscheibe. Aufgegebene Viertel, unkontrollierbare Zonen, heruntergekommene Blocks und Straßenzüge, trostlose Betonkästen. Paris, Detroit, Lyon, Berlin-Marzahn … wie auch immer sie heißen mochten und wo auch immer sie lagen, es spielte keine Rolle.
Hier zählten nicht die Grenzen zwischen Staaten und Kulturen. Hier zählte nur eine Grenze – nämlich die zwischen Oben und Unten.
Und eigentlich spielten auch die Ghettos keine Rolle.
Sie waren nur der Ausdruck einer zu Stein gewordenen Menschenfeindlichkeit. Sie waren lediglich Hülle und perfekte Kulisse für einen wahnsinnigen Film, den das echte Leben spielte. Die Hauptrollen darin waren verteilt auf die Menschen, die hinter den verwahrlosten und abweisenden Mauern lebten.
Auf Kinder, die in verdreckten, nach Urin stinkenden Hinterhöfen spielten, auf halbwüchsige Jungs, die im besten Fall ihre Energie mit dem Basketball im vergitterten Areal zwischen zwei Blöcken verspielten und auf minderjährige Mädels, die im Hauseingang darauf warteten, dass ihr Leben für einen kurzen Traum noch weiter in den Dreck getreten wurde.
Die weniger spektakulären Rollen gingen an die Alten, die hinter ihren Fenstern hockten und auf eine Welt starrten, die sie ausgesondert hatte und an die, denen nur noch vollgestopfte Plastiktüten und Heizungsschächte blieben.
Die Dramaturgie hatte System, war simpel und perfide und überall gleich:
Verpatzte Integration, Ausgrenzung und Gewalt; Profitgier, Arbeitslosigkeit und sozialer Abstieg; Perspektivlosigkeit, Kriminalität und Drogen; Entfremdung und soziale Verrohung … in unterschiedlicher Konstellation ergab sich daraus der Stoff für ein Horrorszenario in Endlosfolgen, das reichen würde bis in die nächste Ewigkeit.
Es war die Welt der ungeliebten und ausgespuckten Schmuddelkinder, die aus dem Bildschirm in Gerdis Seele kroch und mit ihr die Angst um Leon. Sein Kopf war voll davon.
Er sah nicht aus dem Fenster. Er ging nicht hinaus. Er sah keine Kuh und sah kein Grün und wenn, dann interessierte es ihn nicht.
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