Leon tauchte ab in eine Schattenwelt, die immer mehr Raum in ihm füllte.
Gerdi schätzte sein Interesse an sozialen Themen, aber sie fühlte die Unausgewogenheit seiner Wahrnehmung und dass etwas in ihm in bedenkliche Schieflage geraten war und zu kippen drohte.
„Warum, Leon?“
Gerdi stöhnte entnervt auf und schaltete das DVD-Gerät aus.
Es war nicht mehr zum Aushalten, sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
„Warum dröhnst du dich den ganzen Tag mit dieser Musik zu? Siehst du nicht, dass die Welt noch aus etwas anderem besteht, als nur aus Dreck und Gewalt? Das ist nicht deine Welt! So habe ich dich nicht erzogen!“
„Woher willst du wissen, dass es nicht auch meine Welt ist?“
„Du bist nicht zwischen Müll und Betonwänden aufgewachsen, du hast diese Gewalt nicht erfahren! Was zieht dich da so an?“
„Verdammt, lass mich in Ruhe!“, schrie Leon sie an.
„Du hast doch nur deine scheiß Bauernhofwelt im Kopf, als wäre da irgendwas besser gelaufen! Schau doch mal hin, was aus deinem Leben geworden ist! Was gibt es denn da außer Arbeit und Stress?“
Okay! Der erste Treffer geht an dich, Leon.
Du hast einen empfindlichen Punkt erwischt.
Aber es geht mir nicht um einen Schlagabtausch, mein Kind! Ich will wissen, wonach du suchst. Du hast kaum noch Freunde, gehst nicht raus, wirst immer schweigsamer. Ich hab Angst um dich, hab Angst, dass du schlechte Wege gehst, hab Angst, dich zu verlieren, dich nicht mehr zu erreichen.
Und jetzt, Gerdi, pass auf, was du sagst! Halt dich zurück, auch wenn du bereits ahnst, dass es vielleicht gleich ungemütlich werden könnte für dich.
Worum geht es dir? Wahrheiten auszublenden oder deinen Sohn zurück zu gewinnen?
Sie setzte sich neben Leon.
„Was verbindet dich mit dieser Welt? Was hat sie mit deinem Leben zu tun?“
Leon schwieg.
„Leon, bitte, antworte mir!“
Er starrte geradeaus, an Gerdi vorbei, trostlos, mit einem blassen Gesicht. Und was sie daran erschreckte, waren seine Augen. Sie fand keine Freude darin, keinen Glanz. Kein Funkeln, das mit Mühe die Kraft und Lebensfreude in Zaum hielt, die sich eigentlich in seinem Alter dahinter hätte verbergen müssen.
Leon war groß, schlank, fünfzehn Jahre alt und auf seinem Gesicht zeigten sich, ungeachtet der in Abständen wiederkehrenden Kuschelattacken auf seine Mutter, zunehmend markantere Züge.
Als sie eine Antwort auf ihre Frage schon fast abgeschrieben hatte, wandte Leon seiner Mutter ganz unvermittelt sein Gesicht zu und begann zu sprechen:
„Willst du die Antwort wirklich hören?“, fragte er leise.
„Ja, Leon, freilich. Ich will dich verstehen können.“
„Weißt du, ich glaube es fing an, als wir letztes Jahr von Mattes’ Hof weggezogen sind. Vielleicht war’s auch schon davor … ich weiß es nicht mehr.
Diese drückende Stimmung, bevor du und Mattes euch getrennt habt, war ätzend.
Dir ging es nicht gut, du hast ständig geheult und fingst auch noch an, nichts mehr zu essen. Ich konnte nichts machen, wusste überhaupt nicht, was ich tun sollte.
Aber das war alles nichts gegen die Zeit, die dann kam.
Als wir tatsächlich weggezogen sind. Als wir in diesem kleinen Holzhaus neben dem Bauernhof gewohnt haben, zusammen mit dem polnischen Landarbeiter und ich schon wieder auf einem scheiß Hof festsaß, im allerletzten Kaff, am Ende der Welt. Genau da, wo ich nie hin wollte.“
„Leon, ich hatte keine andere Möglichkeit gesehen. Ich hatte keine Arbeit mehr und wir brauchten ein Dach über dem Kopf.“
Er sah sie etwas schief von der Seite her an.
„Ja, vielleicht war es so. Vielleicht war’s aber auch anders. Vielleicht wolltest du ja auch nur dein Ding durchziehen und einen Traum nicht loslassen, der längst verloren war. Und mich hast du mitgeschleppt, wieder weg von dem Ort, an dem ich mich endlich mal zu Hause gefühlt hab.“
In Gerdis Hals breitete sich zunehmend ein würgendes Gefühl aus. Das Bauchbarometer schickte Warnsignale nach oben.
Achtung, Sie verlassen jetzt die Sicherheitszone! Treten Sie zurück vom ungesicherten Randbereich! Achtung, Sie verlassen jetzt …
Es gab keinen anderen Weg, sie musste weitergehen. Schritt für Schritt und langsam, ganz langsam, um dabei den Boden nicht unter den Füßen zu verlieren. Es ging um Leon, das war sie ihm schuldig.
Ihre Finger verhakten sich ineinander, als suchten sie nach einem Halt. Nach Irgendetwas, an das sie sich klammern konnte, um nicht abzustürzen.
„Du hast Recht, Leon. Mit einem Teil hast du Recht. Ich wollte einen Fuß in der Landwirtschaft behalten und versuchen, wieder auf beiden Beinen zu stehen. Ja, daran hing mein Herzblut! Es war meine Freiheit und Überzeugung. Das wollte und durfte ich nicht verlieren! Der andere Teil der Wirklichkeit ist, dass ich nicht weiß, ob ich … ob ich überlebt hätte in einem Zwei-Zimmer-Wohn-Klo mit Glasbausteinchen im Treppenaufgang, ohne Perspektive, ohne Ziel, ohne Aufgabe, ohne Arbeit.
Ich weiß nicht, ob ich es jemals wieder geschafft hätte, meinen Blick nach vorn zu richten ohne die Motivation, an meinem Traum festzuhalten, um ihn wieder Wirklichkeit werden zu lassen. Das Loch, in das ich gefallen war, als wir von Mattes und dem Hof weggingen, war bodenlos. Und ich hatte noch nicht einmal den Grund erreicht, der Fall ging immer noch weiter. Ich wusste nicht, wo und wie er enden würde.“
Gerdis Stimme stockte. Sie hatte Angst, weiter zu sprechen. Mit jedem Wort, mit jedem Satz, den sie sich weiter wagte, drängten Bilder aus ihrer dunkelsten Zeit an die Oberfläche.
Gerdi sah Leon an.
Hinter der Staumauer in ihrem Innern schlugen die Tränen brodelnd gegen die Wand und drohten, den Damm zu durchbrechen.
Nein, bitte, ich will nicht!
Ich will nicht wieder weggespült werden von Tränen, die sich nicht mehr aufhalten lassen. Nicht wieder versinken in diesem unendlich tiefen Loch.
Ich will nicht! Ich will nicht!
Sie atmete tief durch, versuchte sich zu beruhigen, sich herunterzuzählen und mit dem Atem die Spannung, die sich schon gegen ihre Schädeldecke presste und sich in einer Explosion zu entladen drohte, aus ihrem Körper zu entlassen.
Als sie spürte, wie ganz allmählich der Druck nachließ, zwang sie sich, weiter zu sprechen:
„Wie oft hab ich damals im Auto gesessen, schreiend vor Angst, vor Wut und Scham, in einer wahnsinnigen Fahrt durch die engen Täler. Tausendmal gedacht: der nächste Baum gehört dir, Gerdi, den nimmst du mit! Brüllend über meine vermeintliche Blödheit und Unfähigkeit, dieses eine Leben, das ich hatte, ins Gute zu wenden. Ich fühlte mich, als wäre ich ein widerliches Monster. Ein Monster, dem es Recht geschah, hinausgeworfen zu werden.
Wenn ich in den Spiegel schaute, sah ich eine Frau, die es nicht wert war, geliebt zu werden. Mein Selbsthass war so groß, dass ich mich zerstören wollte. Deshalb hab ich nichts mehr gegessen. Diesen feigen letzten Notausgang wollte ich mir offen halten.
Ich weiß, dass ich dir all das gar nicht sagen dürfte und dass du das nicht wirklich verstehen kannst, Leon. Das ist auch nicht deine Aufgabe. Aber für mich gab es damals keinen anderen Weg, als dorthin zu gehen, wo ich mein Gemüse wieder anbauen konnte und wo sich mir die Bedingungen boten, den Verkauf wieder aufzunehmen, um davon zu leben. Ich habe damals keinen anderen Weg gesehen.“
Während Gerdi sprach, war sie ruhiger geworden. Der Damm hatte gehalten.
Aber aus Leon brach es jetzt heraus:
„Meinst du, ich bin total verblödet, dass ich nicht gemerkt hätte, was mit dir los war?
Aber hast du dich auch mal gefragt, wie’s mir damit ging? Wenigstens ein einziges Mal?
Du willst wissen, was ich mit diesen Ghetto-Kids zu tun habe? Warum ich mir diese Musik reinziehe und was ich da suche?
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