„Karen, ich möchte nicht mehr hier leben, verstehst du? So gern ich auch mit euch in unserer Hausgemeinschaft wohne, ich kann es nicht mehr ertragen! Ich ersticke in der Enge! Es macht mich krank!
Wenn ich wenigstens irgendwo einen Garten hätte, so wie du! Ein Stück Erde, auf dem ich sein kann.“
Gerdi saß mit Karen am Tisch. Sie war noch immer aufgebracht und sah hinunter in den Hof.
Die beiden Frauen hatten schon seit geraumer Zeit miteinander gesprochen und vor ihnen stand bereits eine zweite Kanne Tee.
Seit sieben Jahren wohnten sie schon im selben Haus. Sie hatten sich angefreundet, gegenseitig ihre Kinder betreut und sich viel aus ihrem Leben erzählt. Die Kinder hatten sich mittlerweile, gelangweilt von den Gesprächen der beiden Frauen, ins Kinderzimmer verzogen und spielten dort miteinander.
„Ich versteh dich ja“, antwortete Karen, „ganz gut sogar. Aber – vielleicht kann ich dir helfen.
Ich habe neulich beim Spazierengehen einen leer stehenden Garten gesehen mit einer kleinen Hütte. Und ich weiß auch, wem er gehört, weil ich mich erkundigt habe.“
„Bitte? Was sagst du da?“
„Ich such dir mal die Nummer von den Besitzern raus. Vielleicht hast du ja Glück.“
Und Gerdi hatte Glück! Großes Glück!
Der alte Garten mit der kleinen Hütte, oberhalb eines dörflichen Vorortes gelegen und umgeben von Feldern, war ein unglaubliches Geschenk. Und er war weit mehr noch – er war die Wende im Leben von Gerdi, dem Großstadtkind.
In diesem Garten hielt Gerdi das erste Mal die Nase in den frischen Wind. Wie eine junge Wölfin witterte sie die Fährte, die hier ihren Lauf nahm.
Noch war der Garten fremd für sie.
Eine fühlbare Spannung und Unruhe überkam sie jedes Mal, wenn sie das Tor aufschloss und eintrat in eine Welt, die sie nicht kannte. Sie spürte es mit jeder Faser, sie war nicht einfach aufgenommen in dieser Welt. Es lag einzig an ihr, sich Einlass zu verschaffen.
So Vieles gab es hier für sie zu entdecken!
Überall waren heimliche verwilderte Ecken, die sie lockten – Kräuter, Pflanzen und alte, von Unkraut überwucherte Stauden, deren Namen ihr unbekannt waren. Der Garten nahm sie einfach mit auf eine Reise in seine grüne Unterwelt.
Und dieser Garten sollte ihr Lehrmeister werden.
Auf wundersame Weise, geschickt und beharrlich hielt er Gerdi kleine Spiegel vor Augen.
Wenn sie sich erschöpft und mit schmerzendem Rücken über einem Gemüsebeet abrackerte, so zog er amüsiert das Spiegelchen der Ungeduld hervor und ließ Gerdi einen Blick hineinwerfen.
Ein anderes hielt er ihr für verbissenen Ehrgeiz entgegen.
Auge in Auge und etwas peinlich berührt stand sie unverhofft ihrer Erfolgssucht gegenüber. Und wenn Gerdi es schaffte, allzu stur an einem der Spiegelchen vorbeizuschielen, scheute er sich keineswegs, auch härtere Maßnahmen zu ergreifen.
Dann beschwor er eine wuchernde grüne Hölle herauf, trommelte die gefräßigsten aller Schnecken herbei und pfiff zum Angriff auf die Salatköpfe und Zucchinipflanzen, um in einer einzigen Nacht all ihre Arbeit zunichte zu machen.
Okay – okay, okay, ich hab’s verstanden! Jetzt hör mir mal zu!
Ich bin das nicht gewohnt. Bisher war alles anders!
Wenn ich etwas wollte, dann hab ich’s angepackt und gemacht, koste es, was es wolle. So hat es bisher immer funktioniert. Kannst du mir vielleicht verraten, warum das jetzt nicht geht? Ach so, du meinst also, ich bin blind.
Ach – und taub noch obendrein? Und mein Verstand wäre nicht halb so groß wie ein Spatzenhirn?
Na gut, ich werd mal drüber nachdenken.
Gerdi warf sich ausgestreckt ins Gras und schaute in den Himmel. Lange.
Der Wind zog sanft über sie hinweg, rupfte mal hier, mal da ein Stückchen Ehrgeiz ab und übergab es den Wolken, die einfach weiter zogen. Die Fliege auf der Nase kitzelte ihr ein Lächeln ins Gesicht und die Sonne schmolz ihr arbeitsames Streben in eine wohlige Trägheit um.
Sie ließ sich morgens von den Amseln wecken, begrüßte am Mittag das Bussardpärchen, das seine stillen Kreise zog und sorgte sich um den Verbleib des Eichhörnchens, wenn seine gewohnten fünf Sprünge über das Dach der Gartenlaube und hinüber in den Reineclaudenbaum am Morgen ausblieben.
Hier draußen im Garten lernte sie die erschreckende Dunkelheit und die Kühle der Nacht kennen, und sie ließ sich vom Vollmond bezaubern, der ein milchiges Silber über den Garten vergoss. Sein helles Licht hob jede Pflanze, jeden Grashalm, jeden Busch magisch hervor und zeichnete schwarze Silhouetten in den sternenklaren Nachthimmel.
Ganz allmählich fand Gerdi den Weg in eine Welt, die ihr bislang verschlossen gewesen war. Von außen betrachtet, hatte sich nichts merklich verändert, nur dort, wo ihr Bauchbarometer saß, war ein ihr unbekannter weiter Raum entstanden, der gefüllt sein wollte mit neuem Leben.
Für Leon, Luisa und Gerdi wurde der Garten ein zweites Zuhause.
Gerdi stand auf Weilersried im Hausflur und telefonierte.
Den Telefonhörer zwischen Kinn und Schulter geklemmt versuchte sie, ihre Schuhe anzuziehen, während sie mit Leon sprach.
Sie hatte es eilig. Es war fast vier Uhr und wieder hatte sie es nicht geschafft, früher mit der Arbeit fertig zu werden. Jetzt lag die ganze lange Fahrt noch vor ihr und Gerdi mochte es nicht, im Dunkeln zu fahren.
„Ja, ja – natürlich bringe ich Kartoffeln und Gemüse mit“, antwortete sie etwas gestresst in den Hörer, „hab schon alles ins Auto gepackt. Ja, auch die Kette, die du das letzte Mal hier hast liegen lassen. Wenn nichts dazwischen kommt, bin ich gegen Abend bei euch. Also, mein Schatz, ich fahr jetzt – bis dann!“
Sie schickte noch einen flüchtigen Kuss durchs Telefon und legte auf.
Gerdi hob ihren roten Rucksack auf, nahm die Handtasche und den dicken Pullover und machte noch einen Abstecher ins Badezimmer.
Zahnbürste, Duschgel, Haarbürste, Deoroller … ach ja, den Kajalstift und Haarfön darf ich nicht vergessen, so was haben die beiden Männer zuhause natürlich nicht.
Okay, ich glaub, das war’s!
Sie stopfte alles in den Kulturbeutel und versuchte mit Nachdruck, diesen auch noch im Rucksack unterzubringen. Wohl bereits zum hundertsten Mal machte sie dabei die Erfahrung, dass es scheinbar keine Tasche gab, die wirklich zur Menge des Gepäcks passte. Egal, wie groß sie war, sie war auf jeden Fall zu klein.
So war es natürlich auch dieses Mal. Ihr Gepäck ließ zwei Wochen Urlaub vermuten, dabei würde sie in genau achtundvierzig Stunden wieder hier sein.
Na ja, es ist noch früh im Jahr. Der Winter hat sich noch nicht endgültig verzogen, da brauche ich eben warme Kleidung, dicke Socken, ein zweites Paar Schuhe … im Sommer wäre es sicher anders.
Im Sommer!
Falls ich im Sommer noch hier bin.
Wo ist Paul überhaupt? Ich will mich von ihm verabschieden. Wenigstens einmal drücken, Kuss und Nase aneinander reiben, noch was Nettes sagen.
Sie ging hinaus und sah Paul in der Halle, in der er Getreide reinigte und schaute ihm einen Moment lang zu. Verwegen hatte sich der feine Staub vorgenommen, jedes nur erreichbare Haar auf Pauls Gesicht zu besetzen und zeichnete eindrucksvolle Strukturen auf Wimpern und Augenbrauen. Ein wenig wild sah er aus, der Bauer, mit seiner gepuderten Auflage.
Gerdi mochte sein Gesicht, wie eigentlich alles an diesem Mann, und am allermeisten gefielen ihr seine Augen und sein spitzbübisches Lachen, wenn es ihm gut ging.
Sie lief zum Auto, verstaute ihr Gepäck und schlug die Tür vom Kofferraum zu.
Paul sah Gerdi entgegen, als sie über den Hof auf ihn zuging.
„Fahrsch’d jetzt?“, fragte er sie.
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