Auch die Tage, die wir beide hier im Ried noch miteinander verbringen werden, sind ein Teil dieser Zeit. Lass dich ganz einfach überraschen!“
Hanna sah nachdenklich aus.
Dann blieb sie stehen, nahm Gerdis Hände und hielt beide fest.
„Weißt du“, sagte sie leise, „ich bin sehr froh darüber, dass du mich diesen Sommer wieder einmal mit hierher genommen hast. Danke! Ich fühle jetzt schon, dass es gut ist.“
Sie nahm ihre Großmutter zärtlich in den Arm und drückte ihr ein bisschen verlegen einen dicken Kinderkuss auf die Wange.
Gerdi sagte nichts, sie sah ihre Enkeltochter nur an mit einem Blick, wie er für gewöhnlich von Erwachsenen auf Kindern ruht, und nickte kaum wahrnehmbar. Es schien, als würde sie einem inneren Gedanken Zustimmung verleihen. Dann strich sie Hanna ordnend die wilden Strähnen aus dem Gesicht.
Die beiden Frauen setzten ihren Weg fort, begleitet vom hellen Gezwitscher der Feldlerchen. Der Gesang der kleinen Vögel glich ihrem Fluge, der sich unvermittelt weit in die Lüfte hinaufschwang und dann im plötzlichen Fall in einem taumelnden Auf und Ab über die Felder zog.
Hanna wandte sich erneut an Gerdi:
„Sag mal, warum fährst du eigentlich jedes Jahr hierher? Ich meine, es ist schön hier, sehr schön, das ist keine Frage, aber es gibt doch noch andere schöne Landschaften. Die Berge zum Beispiel! Wir könnten doch mal gemeinsam in die Berge fahren oder ans Meer … das wäre auch schön!“
Gerdi lachte und zwinkerte Hanna zu.
„Ja, du hast schon Recht. Natürlich gibt es andere und sicherlich genauso schöne Gegenden, nur – mit diesen Landschaften verbindet mich nichts.
Wenn ich aber hierher komme, ins Ried, erfüllt mich die Landschaft, wie keine andere es vermag. Es ist, als tauchte ich ein in einen Teil meines Lebens, der mir einmal sehr viel bedeutet hat.“
„Was meinst du damit? Was hat dir hier viel bedeutet?“
„Ach, Hanna!“, die Gedanken schienen Gerdi davon zu tragen. Sie lächelte ein wenig in sich hinein und schloss für einen Moment die Augen.
„Das ist eine lange Geschichte … und sie hat begonnen vor langer Zeit – ich glaube, es war in dem Jahr, als du zur Welt kamst.“
Gerdi machte eine Pause und überlegte, wie sie weitersprechen sollte.
„Weißt du, so wie jetzt bei dir, lag auch bei mir damals der Schmerz einer zerbrochenen Liebe hinter mir. Damals hatte ich geglaubt, hier unten, in dieser Gegend ein neues Glück und einen neuen Anfang finden zu können. Und tatsächlich begann hier im Ried auch ein neues Kapitel meines Lebens, allerdings in einer ganz anderen Weise, als ich es mir gewünscht hatte und mir jemals hätte vorstellen können.“
„Jetzt hast du mich aber neugierig gemacht. Erzähl weiter! Erzähl mir von dir!
So, wie du mir früher oft erzählt hast, als ich noch klein war. Weißt du noch?
Bloß damals hab ich dir öfter mal nicht so gern zugehört. Daran kann ich mich zumindest noch erinnern. Ich weiß nicht mehr genau, weshalb das so war, aber ich glaube, du bist mir manchmal zu ernsthaft und irgendwie streng erschienen.
Aber jetzt ist es – naja, eben anders geworden. Jetzt will ich etwas wissen von dir!
Und ich bin mir auch sicher, dass du Vieles weißt, was vielleicht gerade jetzt wichtig sein könnte für mich.“
„Ja, ja – ich weiß, wovon du sprichst“, entgegnete Gerdi, „du hattest schon als kleines Kind immer deinen eigenen Kopf und der kollidierte eben manchmal mit meinem Eigensinn. Das hab ich natürlich ebenfalls gemerkt, Hanna, und manchmal hat es mir schon auch den einen oder anderen Stich versetzt – das hast du sehr wohl vermocht.
Aber ich war mir immer sicher, dass dir meine Art nicht schaden wird und dass du daran ruhig auch wachsen darfst.“
Gerdi schaute Hanna ein wenig verschmitzt an.
„Und außerdem bist du heute ja auch kein Kind mehr. Eine junge Frau bist du geworden. Wie schnell die Jahre vergangen sind!
Du bist jetzt gerade alt genug geworden, um die Türe zu dem langen Frauenleben, das noch vor dir liegt, öffnen zu können. Und ich – ich stehe dir heute mit meinem Alter genau gegenüber, gewissermaßen auf der anderen Seite.“
Sie schwieg, unsicher, ob Hanna verstehen könne, was sie ihr sagen wollte.
Und als Gerdi wieder zu sprechen begann, war Hanna sich nicht sicher, ob die Worte ihr galten oder ob ihre Großmutter zu sich selbst sprach.
„Zwischen uns beiden liegt fast ein halbes Jahrhundert an Lebensjahren als Frau mit vielen Höhenflügen und Abstürzen, mit Sehnsüchten, Liebe, mit Wissen und Hoffnungen, mit Lust und mit Schmerzen und allem, was nun mal zu einem erfüllten Leben dazu gehört.
Und ich, hier auf meiner Seite, öffne gerade ebenfalls die Türe zu einem Neuland.
Aber hinter meiner Türe wartet etwas ganz Anderes auf mich.
Hinter meiner Türe wartet die Erfahrung des Alters, das Vergessen und das Verschwimmen von Gestern und Heute.
Ich weiß, dass mit dem Verrinnen der Zeit auch meine Erinnerung an die vergangenen Tage verblassen wird. Und vielleicht wird eines Tages das Vergessen all diese gelebten Jahre in eine sanfte Decke hüllen. Alte Wunden werden dann endgültig ihren Schmerz und ihren Sinn verlieren, und vielleicht wird auch irgendwann mein Verstand das Erkennen und die Handlung nicht mehr miteinander verknüpfen können.“
Jetzt war Gerdi stehen geblieben und griff nach Hannas Händen.
Im Gesicht der jungen Frau sah Gerdi bei ihren letzten Worten die Bestürztheit einer unbedarften Jugend, aber sie sah auch die Reife, die Hanna brauchte, um ihrer Großmutter weiter zuzuhören.
„Ich glaube, du bist tatsächlich alt genug, um zu hören, was mich vor vielen Jahren hierher, in diese Gegend geführt hat und was mich hier hielt. Vielleicht ist genau jetzt der Zeitpunkt gekommen, um dir die Geschichte meines Lebens zu erzählen, bevor sie sich verliert in einem Vergessen, aus dem ich sie nicht wieder zurückholen kann.
Weißt du, Hanna, mein Leben ist nicht mehr oder weniger bedeutsam als irgendein anderes Frauenleben. Und vor allem weiß ich heute, dass es im Leben nicht so sehr darauf ankommt, was ich erreicht habe und welche Ziele ich verwirklichen konnte. Je älter ich wurde, umso wichtiger ist mir geworden, wie ich etwas erreicht habe und welche Wege ich gegangen bin, um zu meinen Zielen zu gelangen.
Und mir ist nicht länger nur das Erreichte selbst wichtig, sondern das, was davon blieb und was daraus geworden ist.
Gewachsen ist vor allem mein Bewusstsein und auch das Erkennen und Einordnen ganz wesentlicher Erfahrungen. Auch das Empfinden einer Verantwortlichkeit, die einzig mich meint, ist gewachsen und die Liebe zu den Menschen, die mir viel bedeuten und für deren Leben auch ich eine Bedeutung habe.
Und noch etwas Anderes ist gewachsen: Mein Verständnis für die Fügungen des Lebens, die mir die Gewissheit geben, dass Menschen und Situationen, denen ich begegne, genau die Richtigen sind, um das Leben in allen Facetten für mich erfahrbar machen zu können.
Diese Erkenntnis hat meinen Blick geschärft und meinen Geist wach gemacht, sodass ich die weiten Bögen, die alle Stationen meines Lebens miteinander verbinden, begreifen kann als etwas, das einander bedingt.
Vielleicht bist auch du, Hanna, jetzt nicht nur mit mir hierher ins Ried gekommen, um dich vom Schmerz deiner ersten zerbrochen Liebe zu erholen, sondern weil es Zeit geworden ist, deinen Platz zu sehen in einer langen Reihe von Frauenleben beider Familien, aus denen du stammst.
Und vielleicht auch deshalb, weil du heute an einem Wendepunkt deines Lebens angekommen bist, der nach Orientierung verlangt und einem Neubeginn vorangeht.
Du bist noch ganz jung, Hanna, aber doch mittlerweile erwachsen geworden.
Und du gestaltest dein Leben jetzt selbst.“
Du triffst deine Entscheidungen, egal, ob sie richtig oder falsch sind. Du wirst die Aufgaben, die sich dir stellen, erkennen und du wirst sie annehmen oder auch nicht. Du bist frei, alles zu tun, was auch immer du wünschst.
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