Und weil das so ist, Hanna, gibt es auch nichts mehr, wovor deine Eltern oder ich dich noch wirklich beschützen könnten. Dein Glück und deine Schmerzen werden kommen und sie werden vergehen und wieder kommen.
Diese sich ewig drehende Spirale mit ihrem Auf und Ab ist gleichzeitig Qualität und Aufforderung des Lebens, das dich prägen wird und es bereits von deinem ersten Atemzug an getan hat.
Das Einzige, was ich tun kann, und wozu ich mich auch verpflichtet fühle, ist, dich teilhaben zu lassen an meinem Leben, an meinen Erfahrungen und an meiner Liebe für dich.
Was du dir davon nehmen willst, liegt einzig in deiner Freiheit und Entscheidung.
Die Gedanken, die sich ihr zuletzt aufgedrängt hatten, sprach sie nicht aus.
Es waren die Gedanken einer Rückblickenden.
Hannas Leben sollte frei sein von der Last des Wissens. Ein ganz junges Leben war es noch, unbefangen und voller Lust auf Herausforderung. Dem Wissen und der Zukunft würde sie in ihrer Weise entgegen wachsen.
Hannas abwartender Blick ließ Gerdi weiter sprechen.
„Wenn du es wirklich willst, dann will ich dir gern meine Lebensgeschichte erzählen.“
Gerdi brauchte nicht lange auf Hannas Antwort zu warten.
Hanna war längst schon angesteckt, von der Intensität und Offenheit, mit der ihre Großmutter zu ihr gesprochen hatte. Als sie ihr antwortete, schien es, als hätte sie schon lange auf diese Gelegenheit gewartet: „Ja, bitte! Bitte erzähl mir alles, was du weißt – und was du erlebt und erfahren hast!
Ich hab in meinem Leben oft so viele Fragen und meist nur verdammt wenig Antworten drauf. Es gibt so Vieles, was ich nicht verstehe und manchmal, weiß ich einfach nicht, wie Leben geht.
Ich wär dir wirklich dankbar, wenn du mir von deinem Leben erzählst!
Wann sonst würde es besser passen, wenn nicht jetzt? Eigentlich ist es doch so, als wäre es ein Geschenk des Himmels. Wir Zwei haben nämlich gerade alle Zeit der Welt dafür!“
„Ich bin dir ebenfalls dankbar, Hanna!
Dankbar dafür, dass du meine Geschichte hören willst, weil ich weiß, dass der Teil meines Lebens, der für dich bedeutsam ist, sich in irgendeiner Weise auch in deinen Gedanken und Handlungen widerspiegeln wird und dir helfen kann, deinen Weg zu finden. Und schon alleine dafür macht es Sinn, auch die dunkelsten Stunden in meinem Leben gelebt zu haben.“
Einander untergehakt und sich verbunden wissend wanderten die beiden Frauen weiter.
Der Abend hauchte träge seinen feuchten Atem über die Niederung der Flusslandschaft und hüllte sie ein.
Sie gingen langsam, sodass die alte Frau beim Gehen noch genügend Atem fand, um zu erzählen. Und die Junge hörte ihr zu und nahm dennoch in den freien Lücken, die Gerdis schwerfällig gewordenes Gedächtnis zwischen die Worte schob, die Einsamkeit und Stille wahr, die sich mit der aufziehenden Dunkelheit über das Ried legten.
Gerdi saß in ihrem Zimmer und hatte die zerpflückten Einzelteile der örtlichen Tagespresse um sich versammelt. Die Morgensonne spielte auf ihrem schulterlangen hennagefärbten Haar. Zwischen einer Mahagoni-Tönung versteckt, verrieten einige orange leuchtende Strähnen überdecktes Silbergrau.
Gerdi wirkte wesentlich jünger, als sie tatsächlich war. Kaum jemand schätzte sie auf ihr wirkliches Alter. Sie war keine schöne Frau im eigentlichen Sinne, aber sehr weiblich, attraktiv und beeindruckend in ihrer Lebendigkeit. Ihre Körpergröße und kraftvoll zupackende Art standen in reizvollem Gegensatz zur Feingliedrigkeit ihrer schlanken Arme, den schmalen Gelenken und dem langen, schön geformten Hals. Die Gegensätzlichkeit, die Gerdis Körper in sich vereinte, schien ein Spiegelbild ihrer Persönlichkeit zu sein.
Träge blätterte sie in der Zeitung, fischte lustlos die Rubrik „Kontaktanzeigen“ heraus und las.
„Er sucht Sie“ – gepaart mit einem kleinen Schuss Hoffnung schien das Lesen der Annoncen fast so gut wie eine Kombi-Packung Filmtabletten gegen freudlose Nächte und entsetzlich einsame Wochenenden.
Langsam tickerten die Anzeigen durch Gerdis Kopf in Richtung Barometer.
Ihr Bauchbarometer war genau an der Stelle angesiedelt, wo empfindliche Schläge die Magengrube treffen konnten. Ein kleines seismographisch genaues Frühwarnsystem hatte sich dort eingenistet, und Gerdi hatte es ausreichend erprobt in einem bewegten Leben.
Die Messskala „Partnersuche“, an der die Kontaktanzeigen vorbei tickerten, reichte dabei von „nichts sagend“ über „vielleicht – mal sehen“ bis hin zu „Volltreffer“.
Nur blieb der Zeiger fast ohne Ausnahme auf der Negativseite hängen. Manchmal schlich er aber doch zögernd weiter. Fast unmutig quälte er sich dann in den grünen Bereich, sodass Gerdi schon beim bloßen Nachspüren die Lust verließ.
Warum suchen eigentlich so viele Männer eine Frau zum Pferdestehlen?
Trauen die sich alleine nicht?
Warum hält keiner ein Pferd bereit, um mit seiner Herzdame übers Land zu reiten?
Aber vielleicht gehört das ja auch zu den Dingen, die ich nicht verstehe … zu wörtlich, zu ernst genommen … eindeutiger Verstoß gegen die Spielregeln!
Es gibt keine Ritter, keine hingebungsvollen Helden, einfach nur: Er sucht Sie!
Ist das so schwer zu kapieren, Gerdi?
Ach nein, danke! Nicht noch mehr Halbheiten!
Sie legte den Anzeigenteil zusammen und versuchte, das Zeitungschaos halbwegs zu ordnen. Es war Sonntagmorgen, Zeit noch ein wenig zu dösen. Vom Stall her drang durch das gekippte Fenster gedämpft der tiefe kehlige Ruf einer Kuh, die vor kurzem als letzte aus der Mutterkuhherde gekalbt hatte und jetzt nach ihrem Nachwuchs rief.
Ausgestreckt auf ihrem Bett fixierte Gerdi die Maserung der Holzdecke über sich. Schläfrig schlüpften ihre Gedanken hinauf zu den alten Balken und Bohlen. Sie verloren sich in den Spalten, verschwanden in den Rissen.
Auf wie viele Bewohner hatte diese alte Decke eigentlich bereits herabgesehen? Wie viele Leben waren unter ihr geboren und gelebt worden? Wie viel Freude, wie viel Leid und Hoffnung sind im Blick der Augen zu ihr hinaufgewandert?
Vielleicht hatte die Last dieser verflossenen Geheimnisse sie mittlerweile müde gemacht, da sich die Decke zur Mitte des Zimmers hin merklich senkte. Vielleicht neigte sie sich aber auch den Menschen zu, tröstend und erstaunt über deren große und kleine Dummheiten, ihre Liebesnächte und verzweifelten Tränen. Und wäre es ihr möglich gewesen, sie hätte sicher ihren schweren, hölzernen Kopf geschüttelt über die Unrast, mit der die Menschen unter ihr lebten. Sie verstand die Menschen nicht. In ihrer jeweils eigenen Art waren sie einander zu fern, obwohl nur ein wenig Luft sie trennte.
Es war aber ein leises Ahnen in ihr, – tief drinnen zwischen ihren Holzfasern, dort wo die Langsamkeit der Zeit manchmal noch ein kurzes, trockenes Knacken hervorbrachte –, dass der Menschen Unruhe und Drang nach Veränderung der kurzen Verweildauer entspringen mochten, die ihnen auf dieser Erde gegeben war.
Sie hingegen hatte schon ein ganzes langes Leben gelebt, bevor sie in dieses Haus kam und bevor sie hier zu ihrer neuen Bestimmung fand.
Jetzt war auch das Haus schon alt geworden, sehr alt und noch immer war ihr Ende nicht in Sicht.
Aber ganz allmählich nagte die Zeit auch an ihr. Sie wurde noch ein bisschen dunkler, zerfalteter und geriet ein wenig aus den Fugen.
Das Alter formte sie – zärtlich, aber bestimmt.
„Gerdi!?“
Langsam drängte sich ihr Name ins dämmernde Bewusstsein.
„Gerdi, bisch du in dei’m Zimmer?“
Sie war eingeschlafen gewesen.
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