Weilersried war ein Erbhof und gehörte seit vielen Generationen Pauls Familie.
Er lag auf altem fruchtbarem Bauernland und war zu einer Seite umsäumt von bewaldeten, sanft abfallenden Hügelketten. Zur anderen Seite hin öffnete sich das Land in die weite Niederung einer Flusslandschaft. Und über all dem spannte sich ein großartiger Himmel, der mit seinem Licht die Farben der Landschaft ungewöhnlich leuchtend hervorhob und sie an dunstigen Tagen mit einem zarten Schleier überzog und verzauberte.
Für Gerdi war es ein wunderschöner Fleck Erde, in den sie sich vom ersten Blick an verliebt hatte.
Kleine alte Bauernhäuser, einfach und niedrig gebaut, mit angrenzenden Scheunen, Ställen und Gärten säumten die gewundenen weiten Dorfstraßen. Die mit Liebe angelegten bunten Gärten, gepflasterte Innenhöfe, kunstvolle alte Taubenschläge und gepflegte Kirchplätze entwarfen ein fast malerisches Bild.
In Gerdi weckte diese Gegend ein heimeliges Gefühl und zugleich ihren alten Traum von einem Platz, an dem sie geschützt und zuhause sein konnte. Es war ihre insgeheime Sehnsucht nach einem Ort, an dem die Welt noch in Ordnung war.
Paul hatte schon immer auf Weilersried gelebt und gearbeitet. Als Bauer war er tief verwurzelt mit Landschaft und Menschen. Dieses Leben hatte ihn geprägt wie kein anderes. Von Paul ging eine bodenständige Sicherheit und Gelassenheit aus, die Gerdi in einen fast magischen Bann zog. In Paul fand sie, was ihr in ihrem Leben schmerzlich gefehlt hatte.
Sie war wie ein Blatt im Wind und er der Boden, auf den sie fiel.
Mit ihrem unruhigen, bewegten Leben schien Gerdi das schiere Gegenstück von Paul zu sein. Und wäre nicht schon lange das tiefe Bedürfnis nach Beständigkeit, nach Ursprünglichkeit, dem engen Verbundensein mit der Natur und deren Gesetzmäßigkeiten in ihr gereift und hätte sie nicht vor vielen Jahren diesen Weg eingeschlagen und verfolgt, sie wäre nie in die Landwirtschaft gegangen.
Paul und sie wären einander niemals in solch tiefem Einvernehmen begegnet, wie vor fast einem Jahr.
Sie, Gerdi, das Großstadtkind und Paul, der Bauernsohn – zwei Leben, wie sie unterschiedlicher kaum hätten sein können.
Obwohl es jetzt schon lange zurück lag, erinnerte Gerdi sich sehr gut an den Tag, als sie das erste Mal einen Fuß auf diesen Weg gesetzt hatte. Seitdem zog er sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. Die Umstände dieses Tages blieben ihr deutlich in Erinnerung, weil ihr Leben seit dieser Zeit eine Wende genommen hatte.
Mit Leon und Luisa, ihren beiden Kindern, hatte sie damals in der Stadt gelebt.
Ein Hinterhaus, kleine Wohnung unterm Dach, Toilette auf dem Treppenabsatz und Blick auf den zweiten Hinterhof. Es war ein einfaches Zuhause, dafür aber bezahlbar. Für die Kinder und sie hatte es gereicht. Und eigentlich lebten sie gerne dort.
Der kleine bepflanzte Hof mit dem blühenden Pflaumenbaum, der sich mit seinen ausladenden Ästen direkt vor ihrem Fenster ausbreitete, war für alle Hausbewohner eine idyllische Oase inmitten der Großstadt.
Im späten Frühjahr jagten die ersten Horden von Mauerseglern einander um die Häuserblöcke. Das schrille Geschrei der pfeilschnellen Vögel, die an den geöffneten Fenstern vorbeischossen, erschien Gerdi stets wie eine Verheißung auf Sommer und Sonne.
Bald schon sickerte die Hitze allmählich wie dicker Sirup aus dem himmelblauen Ausschnitt zwischen den Häuserwänden und füllte auch ihren Hinterhof. Die hohen Mauern der Vorderhäuser standen wie ein Bollwerk gegen den Lärm und Gestank der großen Straßen, die ihren Wohnblock umgaben, und den Kindern war der Hof ein geschützter Ort zum Spielen. Für Gerdi war dies viel wert. Es war mehr, als sie je davor gehabt hatte.
Damals, als Luisa noch klein war, fehlte ihr eine solche Möglichkeit.
Alle Spielplätze der Umgebung hatte sie mit Luisa längst ausfindig gemacht gehabt, immer auf der Suche nach einem, der ihr erträglich schien. Gerdi mochte keine Spielplätze!
Es war ihr eine erdrückende Vorstellung, sich auf diesen viereckigen Plätzen mit den vierfarbigen Spielgeräten zusammen mit all den anderen Müttern und Kindern festgenagelt zu fühlen.
Über den sich anbahnenden Windel-Kinderarzt-und-Trotzphasen-Gesprächen schien stets eine allgemeine träge Unlust zu schweben. Da half auch Luisas Lachen und Spaß an der Sandkastenwelt nicht ganz darüber hinweg.
Jetzt ging Luisa bereits in die zweite Klasse und Leon fing gerade an zu laufen.
Und noch immer wohnten sie in der kleinen Wohnung unterm Dach. Noch immer war es der gleiche Hof, der gleiche Baum, derselbe Blick auf das viereckige Stück Himmel.
Nur etwas war anders – Gerdi war es längst zu eng geworden.
Sie sehnte sich nach Luft und Weite, nach Bäumen, Erde und nach echtem Wasser. Sie wollte den Lauf der Sonne nicht mehr an den länger werdenden Mauerschatten ablesen. Sie wollte hinaus – raus aus der Stadt. So oft es ihr möglich war, ging sie mit den Kindern in den stadtnahen Wald.
Die Sehnsucht nach Weite und ihr Drang, der Enge der Großstadt zu entkommen, zog sie immer öfter nach draußen, hinauf auf die Bergrücken des Taunuswaldes. Und zuhause, im Hinterhof, rückten die Häuserwände ganz allmählich enger zusammen.
Und irgendwann dann kam dieser eine Tag.
Es war später Nachmittag, als Gerdi mit den Kindern von einem ihrer Ausflüge zurückkam. Sie bereitete gerade das Abendessen zu. Alles war wie immer – bis sie an das Küchenfenster ging, um es zu öffnen. Für den Bruchteil einer Sekunde wehrte sich Gerdis Bewusstsein noch anzunehmen, was sie sah. Dann schrie sie auf. Ihr Blick fiel ungehindert auf die nackte graue Hauswand gegenüber!
„Der Baum! Verdammt, wie kann das sein? Der Baum ist weg!
Was haben sie mit dem Baum gemacht? Wer war das? Warum? Wer macht so etwas!?“
Gerdi rannte die Treppe hinunter und suchte Karen, ihre Nachbarin.
„Was ist mit dem Baum passiert? Wer hat den Baum gefällt?“
„Heute Mittag waren zwei Arbeiter da. Wir konnten nichts dagegen machen!
Der Baum wuchs zwar unserer Hofseite zu, aber er wurzelte tatsächlich auf der anderen Seite des Maschenzaunes und gehörte zum anderen Grundstück. Wir haben das nur nie beachtet.“
„Aber warum? Wen hat denn dieser Baum gestört?“
„Die Bewohner im Nachbarhaus – er hat ihnen angeblich zu viel Licht genommen …“
Mein Baum, dich gibt es nun nicht mehr!
Hast dich einfach über Menschenbedürfnisse hinweggesetzt!
Du wusstest nicht, mein Lieber, so etwas wird hart geahndet. Hältst die Spielregeln nicht ein! Hast den Kopf nicht eingezogen, dich zu sehr nach dem Licht gestreckt …
Was glaubtest du eigentlich, wo wir hier leben?
Über andere hinauswachsen – das hat schon so manchem den Kopf gekostet – oder auch den Stamm, je nachdem.
Jetzt bist du tot!
Hast alles Grün und Duft und Leben mit in deinen Baumhimmel genommen.
Du fehlst!
Gerdis wütendes Gezeter half nichts.
Und es half nichts, die Nachbarn des Nebengebäudes in den zwanzigsten Stock einer Hochhaussiedlung zu wünschen, wo ihnen ganz bestimmt kein Baum mehr das Licht nehmen würde.
Auch eine Beschwerde beim Amt für Grünflächen nützte nichts. Dort wurde sie umgehend sehr amtlich und sehr ernsthaft über Paragraphen belehrt, die zwar Laubbäume im Stadtgebiet schützten, nicht aber Obstbäume. Egal, wie groß und schön der Baum war, wie viele Vögel darin nisteten – es wurde ihm zum Verhängnis, im Frühling in weißer Blütenpracht zu stehen und im Sommer Pflaumen zu tragen.
Gerdi verstand die Welt nicht mehr. Nur Eines wusste sie ganz klar – so ging es nicht mehr! Nicht für sie.
Gedankenverloren schlürfte Gerdi an einer heißen Tasse Tee, bevor sie das Gespräch mit ihrer Nachbarin wieder aufnahm:
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