Beachten wir, wenn wir das am Christentum konkretisieren, dass die Beglaubigung einer behaupteten Offenbarung sehr oft eine durch Worte ist. Wir sind jetzt auf der Ebene von Gedanken, Behauptungen, Erklärungen, kurz: von Semantiken. Eine Semantik wird durch Wörter einer Sprache ausgedrückt. Beglaubigungen sind also Wortgebilde, dito Beglaubigungen von Beglaubigungen. Das vermittelt eine erste Ahnung, was hinter dem Wortschwall der evangelischen Kirchenmusik stecken könnte.
Die zentrale göttliche Offenbarung im Christentum ist Christus. Eine Person also, keine Worte. Jesus von Nazareth redete in seinen rund dreißig Erdenjahren allerdings auch. Er hielt lakonische Kurzpredigten, er erzählte schroffe Geschichten, genannt Gleichnisse, er betete. Das wurde fleißig mit- oder aus der Erinnerung aufgeschrieben. Er schrieb es nicht selbst auf, ein bemerkenswerter Umstand, auf den neuerdings wieder viel, aber mit wenig Erkenntnisgewinn hingewiesen wird. Wenn Andere es aufschreiben, ist es naturgemäß kontaminiert mit deren eigenen Worten und Gedanken. Nun redete Jesus nicht nur, er heilte Kranke, erweckte Tote, wusch seinen Jüngern die Füße und ließ sich nach einer fadenscheinigen Anklage widerstandslos hinrichten. Er kehrte ins Leben zurück, zeigte sich mehreren Augenzeugen und verschwand spektakulär von der Erde. Alle diese Handlungen wurden anschließend von Augenzeugen und Hörensagern in Worten erzählt und aufgeschrieben. Noch mehr als die protokollierten Jesusworte sind solche Berichte naturgemäß von denen kontaminiert, die sie in Gedanken und Worte fassen.
Die Lage ist kompliziert genug, aber sie wird noch komplizierter durch das Dogma der Gottesebenbildlichkeit. Einerseits ist der Mensch Gott ähnlich erschaffen, wie es in der Schöpfungsgeschichte heißt. Man kann vom Menschen auf Gott rückschließen. Der Mensch ist ein Sprachwesen, also muss auch Gott eines sein. Ein anderer bekannter Vers aus der Schöpfungslehre passt dazu perfekt, ebenso die besagte Stelle 1,16 aus dem Johannesevangelium. Andererseits hat der Mensch im Sündenfall seine Gottesebenbildlichkeit verspielt. Ob komplett oder nur teilweise, ist strittig zwischen den Konfessionen. Wenn nur teilweise, dann bietet der intakt gebliebene Teil einen Ansatzpunkt, den Erkenntniszweifel auszuräumen. Die katholische Theologie meint, die menschliche Ratio sei der intakte Teil. Wenn demnach die Priester und Propheten ihre Botschaft in eine rationale Welt- und Menschensicht einfügen, dann wird die Göttlichkeit der Botschaft zutage treten. Die protestantische Theologie meint, die Gottesebenbildlichkeit sei in der Apfelszene komplett verschwunden. Nicht eliminiert, aber doch total verfinstert durch Sünde. Es gibt keinen Ansatzpunkt, der übrig geblieben wäre.
Die Beglaubigung einer Offenbarung müsste also einerseits am Menschlichen ansetzen, andererseits wird das wegen der verlorenen Gottesebenbildlichkeit wirkungslos sein. Eine Dialektik, die wieder einmal nach einer typisch evangelischen Anleitung zum Unglücklichsein aussieht. Schauen wir, wie sich der Protestantismus mit dem Dilemma quält und wie er sich herauswindet. Nicht nur der katholische Gedanke der Rationalität steht ihm nicht zur Verfügung. Auch vor einer anderen katholischen Antwort schreckt er zurück. Für den Katholiken gibt es einen letztlich unbezweifelbaren Beweis für die Göttlichkeit der Heiligen Schrift: die Kirche und ihre Geschichte. Da können einem große Kirchen, große Denker, große Päpste und große Komponisten einfallen. Oder aber Prunksucht, Ablass, Missbrauch, Mord und Totschlag. Der Protestant wendet sich schamvoll schaudernd ab von dem Gedanken. Die evangelische Kirchenmusik, um einmal nur vor der eigenen Haustür zu kehren, zeichnet ein bizarres Muster von frommen Höhenflügen bis zu moralischen Desastern. Von der tief religiös empfundenen Orgelchoralbearbeitung über flache Zeitgeistwerke bis hin zur Führerkantate hat sie alles zu bieten. Im Erkenntniszweifel hilft das nichts.
Einen weiteren Ausweg aus dem Erkenntniszweifel sieht der Protestant eher skeptisch: den spiritualistischen. Der Heilige Geist müsse direkt den Empfänger einer Offenbarung erleuchten, dann erfasse er auch, dass sie göttlich sei. Solchen Spiritualismus weist die evangelische Schultheologie in der Regel zurück.
Einen Königsweg aus dem infiniten Regress des Erkenntniszweifels hat die lutherische Theologie nicht. Ihr bleibt nichts übrig, als den Regress mit langem Atem weiter und weiter zu laufen und immer und immer wieder das Bibelwort, die einzige greifbare Offenbarung Gottes, zu predigen. Und nichts als zu hoffen und zu beten, dass das wieder und wieder wiedergekäute Bibelwort die Kraft entfaltet, die allmählich den Schleier des Erkenntniszweifels lüftet. Luther entblödet sich nicht, das systematisch arg unsaubere Argument vorzubringen, da Gott sich nur im Menschenwort offenbare, sei auch in jedem menschlichen Weitertragen ein Gran neue göttliche Offenbarung enthalten. (Die konsequentere reformierte Dogmatik weist das mit Recht zurück.) Das ist im wesentlichen Luthers Offenbarungstheologie. Ohne alle Abwertung gesagt: sie ist banal, nüchtern und radikal pragmatisch. Sie besagt nichts weiter, als dass die Gottesoffenbarung als Bibelwort vorliegt und dass es auf welchem Weg auch immer unter die Leute zu bringen ist. So frequent und so effizient wie möglich.
Die Aufforderung zum Pragmatismus ist die Stunde der Pragmatiker um Luther: die Stunde der Musiker und die der Drucker. Und die Stunde Melanchthons. Philipp Melanchthon, nicht Luther, ist die geistige Kraft hinter der Massenproduktion von Bibeltextvertonung, die seit Listenius unter der Flagge „Musica poetica“ segelt. Melanchthon liefert den Kirchenmusikern keine Theologie, sondern eine Psychologie, den Commentarius de anima (Über die menschliche Psyche), 1540 bei niemand anderem als Georg Rhau gedruckt. Gleich zu Beginn zitiert er zweimal den antiken Arzt Galen, wegen der Gottesebenbildlichkeit lasse sich Gott erkennen, indem man den Menschen erkenne. Wer denkt, hier spaziere durch die Hintertür das katholische Rationalitätsdenken wieder herein, liegt theologisch natürlich völlig falsch, sachlich aber richtig. Es geht jetzt ums blanke Handwerk. Die biblische Botschaft muss an den Mann und an die Frau, so wirksam wie möglich, und je wirksamer, desto göttlicher, so kann man die Galenreferenz übersetzen. Zur Theorie hinzu nehme man Melanchthons Elementa rhetorices (Bausteine der Rhetorik), 1531 natürlich bei Georg Rhau in Wittenberg gedruckt. Das ist das Jahr von Listenius’ Magisterabschluss. Dort kann man nachlesen, wie man seine Themen so emotionalisiert, dass sie in der Hörerin und im Hörer mit dem gewünschten Gefühl verankert werden.
Das ist es, was die poetischen Musiker brauchen. Melanchthon ist die Blaupause für all das, was heute an den evangelischen Hochschulen unter „Pädagogik“ oder „Vermittlung“ des christlichen Glaubens firmiert. Bei Melanchthon lernen die Kirchenmusiker, wie sie komponieren müssen, damit das Bibelwort ganz tief reingeht. Ein winziger Spalt zur Theologie bleibt, wie gesagt, aber das ist jetzt egal. Da der Mensch nicht die Seite wechseln kann, nähert er sich von der anthropologischen eben so dicht an, dass er so gut wie drüben ist. Die Lücke des Erkenntniszweifels ist geschlossen, nun ja, so gut wie.
Luther siedelt das hehre Wort Gottes hüben und drüben, bei Gott und beim Menschen, beim Sender und beim Empfänger an. Es soll auf beiden Seiten zugleich und folglich irgendwie zwischendrin sein. Da man naturgemäß über die göttliche Seite des Verhältnisses nichts Genaues wissen kann, hält man sich an die menschliche. Die göttliche Seite wäre Theologie, die menschliche ist Anthropologie und Psychologie. Musikalisch angewandte Anthropologie und Psychologie heißt in der lutherischen Kirchenmusik „musica poetica“: eine Musik, die auf Bibelwort oder Predigtwort basiert, die jedes dieser Wörter auf seine psychologische und rhetorische Vermittlungsmöglichkeit hin prüft – und zwar eines nach dem anderen, siehe Distler – und jedes entsprechend klanglich verpackt.
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