Frühkindliche Bildungsprozesse haben einen offenen Prozesscharakter, deren genauer Ablauf nicht immer planbar ist und die auf intuitivem, entdeckendem Lernen beruhen. Das entdeckende Lernen sollte dabei als eine pädagogisch-didaktische Methode der Wissensaneignung und zur Entwicklung eines immer umfangreicheren Weltverständnisses begriffen werden. Für Kinder im Kindergartenalter ist Lernen mit eigener Tätigkeit und aktiver Beteiligung verbunden. Tun und Lernen wird in dieser Alterspanne als Einheit gesehen, es geht um Lernen durch eigenes Tun, vielseitige Wahrnehmung und Selbsterfahrung. Die Kinder begeben sich auf Entdeckungsreise, beginnend in der unmittelbaren Umgebung, immer weiter bis zur Herstellung von kausalen Zusammenhängen und abstrakten Vorstellungen von Abläufen und Gegenständen außerhalb ihres unmittelbaren Wahrnehmungsfeldes. Der Wissensaufbau beruht folglich auf einer eigenständigen Auseinandersetzung mit der unmittelbaren, gegenständlichen Umwelt, die in konkretem Bezug zur Lebenswelt des Kindes und seinen aktuellen Bildungsthemen steht. Einer der wichtigsten Grundsätze bei der professionellen Begleitung der Kinder ist deshalb die beobachtende Haltung der pädagogischen Fachkraft. Die Kinder kommen zu neuen Erfahrungen induktiv, indem sie analysieren, Hypothesen formulieren und sie dann unmittelbar überprüfen, eingebettet in konkrete Handlungszusammenhänge. Dabei sind bestimmte Interaktionsformate wie Gespräch, Dialog, Begründung und Erklärung, Diskussion etc. förderlich, um die gemachten Erfahrungen zu verinnerlichen und die entsprechenden typischen Handlungsmuster aufzubauen. Eine stabile, auf Vertrauen aufgebaute, sozial-emotionale Beziehung zum Kind, systematischer Einsatz von nonverbaler Kommunikation, wie Lächeln, Blickkontakt, körperliche Zuwendung und eine motivierende Haltung seitens der Erwachsenen bei Lösungsfindungen im Rahmen eines Dialogs (Fthenakis, 2009, Pramling Samuelsson & Asplund Carlsson, 2007, Schäfer, 2011) bilden hier eine gute Grundlage. Die Rolle der Fachkräfte besteht dabei darin, die Kinder zu begleiten, mit ihnen über das Erlebte nachzudenken und Hilfestellung zu geben, das Gelernte in das bestehende Wissenssystem einzuordnen. Wichtig dabei ist auch, die Zusammenhänge zwischen dem zu vermittelten Wissen erkennbar zu machen und die Lernprozesse im Kindergarten mit anderen Lebenswelten der Kinder in Verbindung zu bringen, im Sinne eines Transfers des Gelernten.
Die eigenen emotionalen Erlebnisse tragen dazu bei, dass die Kinder das Erlebte und Ausprobierte verarbeiten, behalten und sich eine Meinung über die Welt und sich selbst bilden. Durch Malen, Tanzen, Töpfern und viele andere kreative Mittel sammeln die Kinder Eindrücke und Gefühle, die sie dann wiederum durch eigene Tätigkeit zum Ausdruck bringen (Dreier, 2017, Schäfer, 2011). Durch kreatives Tun bringen sie ihre Ideen, ihre Sichtweisen, ihre Gefühle und Gemütszustände zum Ausdruck. Wichtig ist dabei, die Kinder in ihrem Handeln nicht zu beeinflussen und keine Restriktionen und stereotype Erfolgsstandards oder ästhetische Ideale einzubringen. Erwachsene neigen dazu, sehr schnell ergebnis- und endproduktorientiert zu kommunizieren und eigene, häufig stereotype Meinungen in Kategorien »schön« und »nicht schön« an die Kinder weiterzugeben. Kreatives Handeln sollte hingegen frei sein, die Kinder sollten die Möglichkeit bekommen, etwas Neues, Schönes, Ungewöhnliches, Nicht-Normiertes zu gestalten. Die Aufgabe der Erwachsenden ist es dabei, den Kindern diese Handlungsfreiheit zu ermöglichen.
1Die Fachausbildung von Erzieherinnen und Erzieher wurde großen inhaltlichen und strukturellen Veränderungen unterzogen, indem das Curriculum in Form von Lernfeldern ausformuliert wurde, wobei Auszubildende durch Lernfeldkonzepte drei berufliche Kompetenzbereiche abdecken, nämlich das Fachwissen, intellektuelles und praktisches Können (Methodenkompetenz) sowie Werteorientierungen und pädagogische Einstellungen (Bamler, Schönberger & Wustmann, 2010, S. 208).
2Unter methodischer Handlungskompetenz versteht man die Fähigkeit, geplant, zielorientiert und reflektiert zu handeln und die eigene Arbeit zu organisieren. Im Bildungskontext ist damit gemeint, dass pädagogische Fachkräfte über didaktisches Fachwissen und Können verfügen, um Kinder individuell und ganzheitlich in ihrer Entwicklung zu unterstützen.
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Frühkindliche Entwicklung und frühes Lernen: philosophisch-anthropologische Anhaltspunkte
Robert Soultanian
Von der Geburt bis zum Eintritt in die Schule durchlaufen die Kinder einen komplexen Lernprozess, der in eine ebenso komplexe Entwicklungsdynamik eingebunden ist. Es wird daher hier zunächst dafür plädiert, von Entwicklung und von Entwicklungsaufgaben zu sprechen, anstelle von Lernen bzw. Lernprozessen. Der Begriff der Entwicklungsaufgabe geht auf Havighurst zurück, wurde aber von anderen aufgenommen und teilweise modifiziert (Havighurst, 1953, Hurrelmann, 2015). Hier wird der Begriff der »Entwicklungsaufgabe« in einem umfassenden Sinn verwendet. Das Kind oder die sich entwickelnde Person sieht sich vor Entwicklungsaufgaben gestellt und muss diese aktiv bewältigen. Hier werden beispielhaft drei zentrale Entwicklungsbereiche skizziert:
Bewegung: körperliche und motorische Entwicklungsaufgaben
Kommunikation und Interaktion: soziale Entwicklungsaufgaben
Die Anderen im eigenen Kopf: Selbstentwicklungsaufgaben.
In der Realität sind diese Entwicklungen untrennbar miteinander verbunden, in komplizierten Wechselwirkungsprozessen bedingen sie sich gegenseitig. Ohne die Entwicklung von Bewegungskompetenzen gäbe es kein sich selbst immer besser kontrollierendes »Handlungsselbst«, ohne die besonderen menschlichen Kommunikationsfähigkeiten könnte die »Affordanzstruktur« (Gibson, 1950) der Lebenswelt nicht vermittelt werden usw.
2.1 Bewegung: körperliche und motorische Entwicklungsaufgaben
Der menschliche Organismus entwickelt im Vergleich zu allen anderen Lebewesen einzigartige Bewegungsfähigkeiten und ein unerschöpfliches Bewegungsrepertoire. Der besondere Körperbau, der ein stabiles Stehen auf zwei Beinen und den aufrechten Gang ermöglicht, macht den Oberkörper mit den von den Funktionen der Fortbewegung befreiten Schultern, Armen und Händen zu einem weltzugewandten, auf den aktiven Umgang mit Gegenständen ausgerichteten System.
Die menschliche Hand ist nicht nur Extremität, sondern ein besonderes Wahrnehmungs-, Handlungs- und Kognitionsorgan. Hände sind vom Laufen befreit, besitzen eine Feingliedrigkeit und immense Enervierungsdichte (man denke an die Feinfühligkeit der sehr gut durchbluteten Fingerspitzen, die ein dichtes motorisches Feedback zwischen Hirn, berührtem Gegenstand und der Steuerung der Finger- und Handbewegung ermöglichen). Der frei bewegliche und gegenübergestellte Daumen, der ein echtes Greifen in verschiedenen Griffsvarianten erst ermöglicht, macht die Entwicklung dieses psychosomatischen »Organs« perfekt. Ein weiterer Aspekt der immensen Leistung, die hier von jedem Kind erbracht werden muss, selbst bei so scheinbar banalen Alltagstätigkeiten wie dem Drücken einer Türklinke oder dem Öffnen einer Keksdose, ist die Koordination von Auge und Hand und die jeweils zielführende Integration der Sensomotorik insgesamt (Wilson, 1998).
Zugleich ermöglicht der menschliche Körperbau ein geradezu unendliches Bewegungskönnen: Menschen können sich rhythmisch bewegen, tanzen, sich im Kreise drehen, springen, schwimmen, tauchen, auf einem Bein stehen, klettern, dauerlaufen, sprinten, auf dem Kopf stehen, auf den Händen laufen, Fahrradfahren, Skateboard fahren, Inline skaten, Purzelbäume schlagen, Saltos springen, Rad schlagen usw. Und Menschen können gezielt und mit hohem Momentum werfen, ein entscheidender Faktor der Humanevolution (Gintis et al., 2014).
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