Ich ließ mich die Schwere in meiner Brust unmittelbar fühlen, statt sie nur zu beobachten. Ich tauchte in den Strom der Empfindungen ein und stellte fest, dass sich mein Gesicht schwer anfühlte. Tränen begannen sich in meinen Augen zu sammeln, und plötzlich, vielleicht auch allmählich – es war schwer, die Geschwindigkeit zu bestimmen –, verspürte ich Bauchschmerzen. Dann begann ich zu schluchzen. Ich ließ das Schluchzen da sein, es beobachtend, es fühlend und darauf neugierig seiend. Ich durchsuchte meinen Geist und nahm die Empfindungen auf, um Bilder, Gefühle und Gedanken zu erforschen. Ein Bild meiner Mutter kam mir in den Sinn, und es stellte sich ein Gefühl von Angst und Traurigkeit zugleich ein. Der Gedanke an ihre bevorstehende Operation in der Woche darauf, die Gefühle von ihr als Mutter, als ich noch ein Kind war, und die möglichen Komplikationen ihrer Operation gingen mir durch den Kopf, während sich das Schluchzen in ein Starren in den leeren Raum verwandelte.
Ich folgte dem Gedanken an meine Mutter und fasste die klare Intention, tief in das hineinzugehen, was dies für mich zu dieser Zeit bedeutete. Ein Bild von meiner Mutter und mir – eine Erinnerung an einen Schnappschuss – trat in den Vordergrund. Ich begann, noch stärker zu schluchzen. All die Nähe, all die Distanz, die Probleme und die Sorgen, und jetzt, wo ich erwachsen war, blieben die Sehnsüchte meiner Vergangenheit, die mein Empfinden, mein nichtbegriffliches Wissen ausmachten. Ich fühlte sie einfach und kannte sie – nicht nur als Empfindungen, sondern als eine Verschmelzung von Spüren, Beobachtung und Gedanken, die all ihrer begrifflichen Ursprünge beraubt waren und einfach einen klaren Weg beschrieben, um eine Essenz in mir zu kennen. Ich sagte mir, dass ich bereit sein müsse, mich von ihr zu verabschieden, falls es Komplikationen bei der Operation gab. Also traf ich die Entscheidung, sie vor jenem Tag zu besuchen und während der Operation bei meinem Vater zu sein.
Mit dem Fortsetzen der Gehmeditation verebbte das Schluchzen; mein Körper fühlte sich leicht an, die Schwere in der Brust wich einer Leichtigkeit des Seins, einem tiefen Atem, einer Freiheit in meinem Bauch. Ich würde diese Phase wach angehen und bereit sein, für das, was auftauchte, vollkommen präsent zu sein.
Ich weiß nicht, wie das selbstlose Gewahrsein mit dem nichtbegrifflichen Wissen zusammenhängt. Sie fühlen sich unterschiedlich an – hier „weiß“ ich etwas über die Gesamtvorstellung von meiner Mutter, die Kümmernisse der Liebe und die Traurigkeit des Lebens und des Todes.
Aber sehen Sie sich diesen Satz mit einem „ich weiß“ unmittelbar dahinter an. Im wahllosen Zustand des selbstlosen Gewahrseins ist das Gefühl anders. Da gibt es einen zutiefst friedvollen, passiven Zustand des Schwebens, in dem das „Sich-gewahr-Sein“ wie die Wolken am Himmel ist, die ohne einen Anker existieren oder verschwinden. Im nichtbegrifflichen Wissen gibt es ganz eindeutig ein „Ich“, das weiß. Und daran ist die Vorstellung geknüpft: All das ist „real.“ Es gibt kein „besser“, wenn man sein Selbstgefühl verliert, wenn man Identität und Ego umgeht, als einen Ort des „Ich“ zu haben, jenes verortete Paket, welches das „Ich“ und das „Mein“ erschafft. Alle sind gut, alle sind in Balance.
Und so blieb in jenem Moment ein köstliches Empfinden der vier Ströme des Gewahrseins übrig, die den Fluss des Bewusstseins speisen. Jeder dieser vier umgibt vielleicht die Nabe des Bewusstseinsrads und filtert und kanalisiert unser Erleben des Jetzt (vergleiche Abbildung 4.2). Selbst in der reinen Rezeptivität, so stelle ich mir vor, können wir einen der vier Ströme als den vorherrschenden spüren. Und bei jenen Gelegenheiten, wo es klar wird, ist sogar eine Rezeptivität, die kein Selbst hat, de facto Teil unserer Erfahrung. Der Wissende, das Wissen und das Gewusste werden in jenem „transpirationalen“ Zustand eins: Wir atmen durch alle Dimensionen Leben ein; wir integrieren eine tiefe Empfindung der Verbundenheit von allem. Dieses Gefühl der Zugehörigkeit bleibt im Hintergrund der Potenziale, es nährt die Leichtigkeit unseres Seins, die „Flaumigkeit“ der Wolken, die wir als Erfahrung des „Selbst“ bezeichnen. Wir müssen unser körperlich definiertes Selbst nicht so ernst nehmen, aber wir können alles in uns aufnehmen, jeden süßen Moment lang.
Siebzig Mal flüstern
Nachdem wir aus sechsunddreissig Stunden Stille aufgetaucht waren, begannen wir damit, einem Partner über unsere Erfahrungen zu berichten. Ich begann mit „Ich heiße Dan“, und sie sagte, „mein Name ist Barbara“, und so begannen wir unsere Rückkehr in die Welt der persönlichen Identität. Siebzig von uns flüsterten gleichzeitig: Die eine Hälfte jeder Dyade, die ihre Geschichten erzählte und alles tat, um die nonverbale Welt in das begrenzte Medium der Sprache zu übersetzen.
An jenem Morgen machten wir eine Reihe von Gruppenübungen, die irgendwie mit dieser ganzen Diskussion zu tun hatten, den Geist des Gewahrseins zu verkörpern. Zuerst gingen alle einhundertundvierzig Teilnehmer schnell und mit willkürlichen Bewegungen. Es war erstaunlich, festzustellen, dass wir nicht zusammenstießen. Die Räume zwischen uns formten unsere Erfahrung, wie die Räume zwischen Musiknoten den Unterschied zwischen Jazz und Rock, Klassik und Ramsch ausmachen. Die nächste Übung bestand darin, langsam rückwärts zu gehen. Jedes Mal, wenn wir eine andere Person berührten, sollten wir uns einen kurzen Moment an sie lehnen und dann weitergehen. Wie bei unseren diskursiven, narrativen Gedanken während der ersten Erfahrung gab es auch hier ein Empfinden, dass Ströme des Gewahrseins kollidierten. Schließlich wandten wir uns nach außen, mit dem Rücken zum geometrischen Mittelpunkt gewandt, und gingen dann alle langsam rückwärts in den Raum. Am Ende waren wir natürlich alle im Zentrum zusammengepfercht, wie in einem Bienenstock, und lehnten uns nach innen, von anderen umgeben, um nirgendwo zu sein als dort. Ich war traurig, als wir uns voneinander trennen mussten. Mir wurde die gegenseitige Verbundenheit bewusst und die Art und Weise, wie wir lernen, als getrennte Wesen zu leben. Die optische Täuschung unserer Getrenntheit, wie Einstein sie so passend genannt hat. Diese Täuschung schien hier wegzuschmelzen, und ich sehnte mich nach der Realität unserer Ganzheit.
Teil III
Facetten des achtsamen Gehirns
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