Viele Leute haben dieses Gefühl auch in Beziehungen. Vielleicht haben Sie den Partner oder die Partnerin Ihrer Träume. Und so gut das ist, werden Sie von einer gespenstischen Befürchtung heimgesucht, die diese Form annimmt: „Wenn sie/er nur wüsste, wie ich wirklich bin, würden sie/er mich verlassen.“ Wenn wir solchen Gedanken Glauben schenken, können derartige Selbstherabsetzungen gerade die Beziehung gefährden, die uns besonders am Herzen liegt.
In mir löst nichts stärker dieses Gefühl der Hochstapelei aus, als wenn ich als Achtsamkeitslehrer auftrete. Wie oft bin ich schon erschienen, um eine Meditationsklasse zu leiten oder einen Vortrag über Geduld zu halten, nachdem ich eine Stunde zuvor noch auf der Autobahn im Stau stand, frustriert über den Verkehr und geplagt von der Sorge, ob ich es rechtzeitig zur Klasse schaffe? Ganz sicher habe ich da kein Bild heiterer Gelassenheit abgegeben, wie es viele Meditationsschüler vielleicht erwarten würden. Ich schwebte nicht auf Wolken, als ich dasaß und die Abgase einatmete! Oder wenn ich einen Vortrag darüber zu halten hatte, wie uns Achtsamkeit zu Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Moment verhilft und wie sie das Gedächtnis und die Raumwahrnehmung verbessert. Gut möglich, dass ich trotzdem, bevor die Klasse begann, fünfzehn Minuten lang damit verbracht habe, im Geiste meine Wege an dem Tag zurückzuverfolgen, weil ich meine Schlüssel um alles in der Welt nicht finden konnte!
Glücklicherweise habe ich genug über Achtsamkeit gelernt, um zu verstehen, dass es nicht darum geht, perfekt zu sein, sondern darum, wie man sich auf die Erfahrung jedes Momentes bezieht und gegenwärtig bleibt, und das mit einer freundlich-verständnisvollen Aufmerksamkeit. Und für mich bedeutet das manchmal, einfach präsent zu sein für die Ängste, Frustrationen oder Verwirrungen, die jeder von uns erlebt.
ÜBUNG 
Das Hochstapler-Syndrom erkennen
Was wäre, wenn Sie dran glauben könnten, dass Sie die richtige Person für den Job sind oder die ideale Wahl für Ihren Seelenpartner? Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie vor einem Publikum stünden und alles Recht der Welt hätten, genau dort zu stehen, kompetent und voller Selbstvertrauen? Können Sie sich vorstellen, Ihren Platz im Vorstand einzunehmen und zu wissen, dass Sie allen Grund haben, dort zu sein?
Es ist möglich, das Hochstapler-Syndrom zu überwinden. Und zwar so:
SCHRITT 1: Seien Sie achtsam, um das Hochstapler-Syndrom zu erkennen, sobald es aktiv ist. Wenn wir etwas bewusst wahrnehmen, hat es uns nicht mehr so im Griff wie vorher, als es unbewusst geschah. Es mag zwar wehtun, das Muster zu erkennen, aber es ist der Beginn, um sich aus diesen Fesseln zu befreien.
SCHRITT 2: Achten Sie darauf, wann Sie diese schwächenden Gedanken haben. Versuchen Sie, die Stimmen aufzuspüren, die Ihre Autorität, Ihre Erfahrungen oder Fähigkeiten anzweifeln. Nehmen Sie wahr, was sie sagen. Erst wenn wir diese Gedanken klar erkennen, können wir uns von ihnen distanzieren und ihren Einfluss eindämmen.
SCHRITT 3: Hinterfragen Sie stets die Gedanken, die gerade da sind. Gedanken selbst haben kein Monopol auf die Wahrheit, und je weniger wir ihnen glauben, umso eher werden sie in Vergessenheit geraten. Dann können wir den Schwerpunkt unserer Aufmerksamkeit von ihnen weg verlagern und uns stattdessen etwas anderem zuwenden, das wahrer, gegenwärtiger und positiver ist.
SCHRITT 4: Erinnern Sie sich an Ihre Fähigkeiten, Erfahrung und Talente, die zu Ihren Selbstzweifel in direktem Widerspruch stehen. Da der Kritiker überall durchdringen kann, ist es wichtig, seinem Hohn und Spott Objektivität entgegenzusetzen. Statt all den Gründen zu lauschen, warum Sie den Vortrag nicht halten oder den Job nicht bekommen sollten, richten Sie Ihre Aufmerksamkeit lieber auf Ihre einzigartigen Stärken und Fähigkeiten, die Sie in Bezug auf eine Situation, eine Person oder ein Team haben. Es ist wesentlich, das ständig zu tun, damit Ihr Blickwinkel sich an der Wirklichkeit und nicht an verzerrten Sichtweisen orientiert.
KAPITEL VIER
DER FRIEDENSDIEB
Der Kritiker als Ursache geringer Selbstachtung
Bleib dem Gericht der Selbstverurteilung fern, denn dort gibt es keine Unschuldsvermutung.
ROBERT BRAULT
Wie oft haben Sie schon einen ruhigen Sonntagnachmittag genossen, haben in der Spätsommersonne im Garten gesessen, vollkommen eins mit der Welt, und dann meldete sich plötzlich eine nörgelnde
Stimme und sagte so etwas wie: „Warum verschwendest du diesen wunderbaren Nachmittag? Du könntest etwas Produktiveres tun, zum Beispiel den Rasen mähen, die Garage entrümpeln oder all die Arbeiten im Haus erledigen, die du dir für dieses Wochenende vorgenommen hattest.“ Blitzartig wird der beschauliche Augenblick durch ein schlechtes Gewissen kaputt gemacht.
Dasselbe geschieht, wenn wir abends eine Spazierfahrt mit dem Auto machen und wir feststellen, dass das Auto seit Monaten nicht mehr gewaschen wurde, die Fenster dreckig sind und der Müll ausgeräumt werden müsste. Dann erhebt sich eine Stimme aus dem Dunkeln und erklärt, warum du diesen netten kleinen Ausflug nicht verdient hast, sondern stattdessen daran erinnern werden musst, wie vergesslich und faul du bist und warum du etwas tun musst – irgendetwas, und sei es so etwas Einfaches wie das Auto zu waschen.
Das Gleiche gilt für all die Male, als Sie zum Abendessen bei einem Kollegen in sein wunderschönes Haus eingeladen waren, die idyllische Kindergeburtstagsparty bei einem Freund besucht oder eine Probefahrt mit dem neuen Wagen Ihres Bruders gemacht haben. Anstatt den Augenblick genießen zu können, wurden Sie von dem Kritiker abgelenkt, der Ihr Leben mit dem der anderen verglich und alles aufzählte, wo Sie nicht mithalten können. Der innere Richter unterstellt, dass wir weniger wert sind, weil wir nicht so gut kochen können, unser Haus zu lotterig ist, um Gäste zu empfangen, wir die Geburtstagspartys unserer Kinder nicht gut organisieren und unser Auto schlichtweg peinlich ist.
Jene Stimme des Kritikers ist allzeit bereit, uns die Freude des Augenblicks zu verderben und uns daran zu erinnern, dass wir kein Recht auf Spaß oder Entspannung haben, nicht fähig sind, auf uns selbst aufzupassen und im Vergleich mit anderen nicht gut genug sind. Sie will uns weismachen, dass wir, wenn wir doch nur zuhören und die Kommandos des Kritikers befolgen würden, ein besserer, zufriedener und erfolgreicherer Mensch wären.
Was als harmlose Stimme begonnen haben mag, dreht mit der Zeit den Lautstärkeregler in unserem Kopf immer mehr auf, bis sie zu einer fortwährenden Nörgelei wird, wie ein kläffender Hund, der ständig nach unseren Fersen schnappt.
Was geschieht, wenn wir auf all diese verunglimpfenden Bemerkungen hören? Der Genuss am gegenwärtigen Moment geht verloren. Stattdessen fühlen wir uns wertlos, unzulänglich und unzufrieden. In meiner Arbeit der letzten zwei Jahrzehnte mit tausenden Menschen habe ich immer wieder beobachtet, wie die Leute ihrem inneren Kritiker und seinem harten Urteil zum Opfer fallen. Wenn man all diesen scharfen Urteilen Glauben schenkt, stellt sich als traurige Konsequenz eine Dämpfung der Freude, Verminderung des Wohlbefindens und ein Verlust der Selbstachtung ein, und die Chancen einer Depression oder Angststörung nehmen zu. Das Endergebnis ist ein unterschwelliges Schamgefühl.
Einmal arbeitete ich mit einem wunderbaren Mann namens James – er war schon in den Sechzigern – dem es nicht gelungen war, der Unterdrückung durch seinen inneren Kritiker zu entkommen. Er sah grau aus, vom Wetter gegerbt, und sprach davon, dass er sich wie erstickt fühle, wie unter einer Wolke aus Scham. Er war nicht in der Lage, seine eigenen Gedanken vom Lärm des Kritikers zu unterscheiden, deshalb wurde er ständig von den Urteilstiraden in seinem Kopf geplagt.
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