Warte nicht auf das Jüngste Gericht. Du stehst jeden Tag vor deinem Richter.
ALBERT CAMUS
In einem Meditationskurs beschrieb ein Anwalt den inneren Kritiker einmal als einen übellaunigen Mitbewohner, der ständig herumnörgelt, weil man es ihm nicht recht macht. Während er sprach, nickten viele Leute zustimmend mit dem Kopf. Im Verlauf dieses Kurses wurde der „unbequeme Mitbewohner“ zum Synonym für all die ungesunden Stimmen in unseren Köpfen.
Später merkte eine Teilnehmerin an, dass das Ganze nicht so schlimm wäre, wenn es sich nur um einen einzigen Mitbewohner handeln würde. Aber, sagte sie, in ihrem Kopf gehe es eher wie im Schlafsaal eines Schullandheims zu! Sie meinte, dass „da sehr viele Kritiker drin sind, und was für einen Rabatz die machen, sogar mitten in der Nacht!“. Ich war ganz ihrer Meinung und fügte noch hinzu, dass es keine Party sei, zu der ich gern eingeladen werden würde. Aber der Kritiker kümmert sich nicht um Einladungen. Er platzt einfach rein, häufig zu den unpassendsten Gelegenheiten.
Wenn der Kritiker ein so unerwünschter Gast ist, warum werden so viele Menschen von ihm geplagt? Die Natur bringt selten, wenn überhaupt, etwas hervor, dass keinem Sinn und Zweck dient. Also was ist der Sinn und Zweck des Kritikers, und wie kam er hierher?
Es gibt viele psychologische Erklärungen für die Anwesenheit des Kritikers. Sigmund Freud, der Gründervater der Psychoanalyse, nannte ihn das Über-Ich. Für ihn ist das Über-Ich ein wesentlicher Bestandteil der Psyche, der die Aufgabe hat, die Impulse des Es in gezügelte Bahnen zu lenken. Das Es sind unsere ursprünglichen, unbewussten (sexuellen) Triebe. Wenn sie nicht in Schach gehalten würden, so Freud, würde das zu einem ungezügelten Ausagieren dieser aggressiven, egozentrischen Kräfte führen, was das Leben in einer zivilisierten Gesellschaft fast unmöglich machen würde. (Der Film Herr der Fliegen portraitiert so eine Wirklichkeit mit ihren grauenvollen Konsequenzen.)
Ohne Fachterminologie können wir sagen, dass Säuglinge und Kleinkinder ein Höchstmaß an Liebe, Zuwendung und Fürsorge von ihren Eltern/Bezugspersonen brauchen, und zwar nicht nur, um zu überleben, sondern auch, um sich optimal zu entwickeln. Nicht zuletzt deshalb sind Babys so unglaublich niedlich, damit wir sie lieben und uns um sie kümmern wollen. Um in das jeweilige Familiensystem zu passen, in das wir hineingeboren wurden, mussten wir als Kinder in der Lage sein, unsere eher unerwünschten Empfindungen wie Ärger, Wut, Gier oder Selbstsucht unter Kontrolle zu haben.
Da diese Kräfte so gewaltig sind, brauchten wir einen gleichermaßen starken Mechanismus, um sie einzudämmen. Und es gibt kaum eine bessere Waffe als die Scham, um eine starke Kraft in uns außer Betrieb zu setzen. Denken Sie an die vielen Arten, auf die Sie als Heranwachsender beschämt wurden. Sie dienten als Kommandos, um diesen Trieben Einhalt zu gebieten.
In einem der vielen wilden Kämpfe mit meinem älteren Bruder nannte ich ihn einmal einen „verdammten Lügner“, nachdem er wegen eines Streiches, für den wir Ärger bekommen hatte, gelogen hatte. Mein Vater, ein strenger Katholik, geriet außer sich vor Wut, als er diese Gotteslästerung hörte. Er wusch mir daraufhin den Mund – im wörtlichen Sinn – mit Seife aus, weil Fluchen Sünde sei.
Wie Sie sich vorstellen können, lernte ich ziemlich schnell, dass Fluchen nicht erlaubt war, dass ich dafür getadelt und bestraft wurde. Um also zukünftigen Demütigungen vorzubeugen, trat mein Kritiker auf den Plan und warnte mich, dass Fluchen schlecht, falsch und schändlich sei, und besonders in Gegenwart meiner Familie zu unterlassen sein.
So gesehen erfüllte der Kritiker seine Aufgabe, er versuchte mich vor öffentlicher Schmach und familiärer Zurückweisung zu bewahren. Das Problem besteht darin, dass er nicht wieder verschwindet. Er ist wie eine gesprungene Schallplatte, die dieselbe Stelle ständig wiederholt. Immer wieder dieselbe Leier, als ob jeder weitere Ausrutscher wieder schlimme Folgen nach sich ziehen würde, sogar Jahrzehnte nach dem eigentlichen Vorfall, was natürlich nicht zutrifft.
Mein Vater lebt mittlerweile tausende Meilen entfernt und flucht wahrscheinlich mehr als ich. Doch sogar heute noch durchzuckt mich, wenn ich in der Öffentlichkeit fluche, das schlechte Gewissen und die unbewusste Sorge, dass der Hammer irgendeines Richters heruntersaust und mich schuldig spricht.
Der Kritiker lernt, die Urteile und Verurteilungen von anderen vorwegzunehmen – besonders die unserer Eltern, religiösen Führer, Lehrer, einflussreichen Freunde, Verwandten und anderer Autoritätspersonen. Um uns vor Zurechtweisung oder Schmach zu bewahren, internalisiert der Kritiker deren Regeln.
Wenn Sie dieses Prinzip in Aktion sehen wollen, schauen Sie einmal Kindern beim Spielen zu und achten Sie auf die verschiedenen Regeln, die sie sich gegenseitig auferlegen. Meistens wiederholen sie einfach die vielen Regeln und kulturellen Normen, die ihnen zu Hause oder in der Schule beigebracht worden sind: einfache richtig-falsch Verhaltensregeln. Und wenn man gegen den Kodex verstößt, wird man bestraft oder zumindest aus der Gruppe oder dem Spiel ausgeschlossen.
Wir erleben auch heute noch, wie Jungen von Gleichaltrigen und Erwachsenen gehänselt und mit beschämenden Kommentaren bedacht werden, wenn sie sich weich oder verletzbar zeigen. Das erhält das stereotyp männliche, oder sogar machohafte Rollenbild aufrecht. Sie werden als Schwächling oder Weichei bezeichnet, wenn sie „weibliches“ Verhalten an den Tag legen. Diese männlichen Jugendlichen wiederholen dann, was sie gehört und internalisiert haben, und geben es in ihrer Peergroup weiter, und später dann an die eigenen Kinder. So setzt sich der Zyklus der Scham- und Schuldgefühle von Generation zu Generation fort.
Auch Mädchen sind von diesem gesellschaftlichen Urteilen und den Schamgefühlen nicht ausgeschlossen. Vielleicht erleben sie sie sogar noch intensiver. Wie oft wird Mädchen gesagt, dass es nicht damenhaft oder unweiblich sei, Aggressionen zu zeigen oder sich durchzusetzen, und dass sie stattdessen großherzig und hilfsbereit sein sollten? Sheryl Sandberg 12, die Geschäftsführerin von Facebook, hat in ihrem Buch Lean In beobachtet, dass Mädchen, die früh natürliche Führungsqualitäten zeigen, oft als rechthaberisch beschimpft und dadurch in eine gesellschaftlich eher akzeptierte, weil weiblich-gefügige, Rolle zurückdrängt werden.
Wie stark das Bedürfnis nach Anpassung ist, zeigt sich vielleicht am stärksten in der Teenagerzeit, wo es essentiell ist, dazuzugehören und von seinen Altersgenossen akzeptiert zu werden. Es ist ein Alter, wo der innere Kritiker vernehmlicher und deutlicher in Erscheinung tritt, bisweilen sogar ausgesprochen grausam und demoralisierend. Der Suizid eines Jugendlichen ist wohl die extreme Folge von den niederschmetternden Demütigungen und Abstrafungen Seitens des Kritikers.
Ein wichtiger Punkt, den es zu bedenken gilt, ist, dass der Kritiker kein besonders ausgeklügelter Mechanismus ist. Das liegt zum Teil daran, dass er, wenn wir acht Jahren alt sind, schon fast vollständig entwickelt ist. Er operiert aus der Perspektive und mit der Stimme eines Kindes. Deswegen hat er diesen simplen Blick und rigiden Kodex von gut und schlecht, richtig und falsch. Und das erklärt zum Teil auch, warum ein Argumentieren mit dem Kritiker nirgendwohin führt – der Kritiker ist unflexibel in seinem Denken und unfähig, Mehrdeutiges und Subtiles zu begreifen.
Wenn wir erwachsen sind, hat der Kritiker seinen Nutzen längst verloren. In unserer Jugend war er für die Psyche ein wesentliches Werkzeug, um uns anzupassen und den Strom unserer Neigungen und Affekte zu regulieren. Doch mit der Zeit entwickelt er sich zur Stimme unseres Gewissens, zur Autorität über Gut und Schlecht, und kann unsere Entscheidungen ganz erheblich beeinflussen. Und was noch schlimmer ist, er hat die Hybris zu meinen, er könne für uns entscheiden, ob wir der Liebe wert oder überhaupt ein guter Mensch sind.
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