Gleichzeitig ist es Usus, über eigene Erfolge, Stärken und Leistungen nicht zu reden. Das gilt als unfein und selbstgefällig. In England aufgewachsen lernte ich, dass es ein Faux pas ist, die eigenen Talente und Begabungen zu erwähnen oder im eigenem Erfolg zu schwelgen. Es ist, als riebe man anderen Leuten damit Dreck unter die Nase. Mit seinen Unzulänglichkeiten und Problemen zu prahlen, ist hingegen völlig in Ordnung.
In den Vereinigten Staaten sind die Statistiken der Gesundheitsbehörde alarmierend. Einer von zehn Amerikanern 2nimmt Antidepressiva. Einer von fünf 3nahm 2010 Medikamente, die Einfluss auf das Verhalten haben. Die Anzahl der Suizide 4ist ähnlich erschütternd: 40.000 pro Jahr. Und das sind nur die erfassten Fälle. Obwohl diese Zahlen in den Vereinigten Staaten höher sein mögen als anderswo, haben viele der Industrieländer 5ähnlich alarmierende Statistiken.
Aufgrund der therapeutischen Arbeit, die ich in den letzten fünfzehn Jahren mit Menschen auf sechs verschiedenen Kontinenten getan habe, bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass der innere Kritiker eine wesentliche Ursache für einen Großteil aller heutigen Depressionen, Angststörungen und Selbstmorde ist. Wenn die kritischen Stimmen laut, scharf und zügellos werden, ist es schwer, den eigenen Selbstwert nicht aus dem Blick zu verlieren oder das Gefühl zu haben, dass das Leben eine Bedeutung und einen Sinn hat.
Diese zweifellos bestürzenden Statistiken enthalten eine gleichermaßen traurige wie beruhigende Tatsache: Wir sind nicht allein. Wenn wir depressiv sind oder uns in einem Sumpf von Selbstvorwürfen verlieren, ist insbesondere der Gedanke, dass wir mit solchen Problemen nicht „normal“ seien, sehr belastend. Wir glauben fälschlicherweise, dass wir die einzigen seien, die an quälend negativen Geschichten über uns selbst leiden würden. Als wäre es nicht schon schlimm genug, überhaupt solche destruktiven Dinge über sich selbst zu glauben, bereitet einem die Vorstellung, der einzige „Verlierer“ im Raum zu sein, doppelte Schmach und ist viel schwerer zu beseitigen.
In den Workshops, die ich über den inneren Kritiker halte, ist eines der heilsamsten Resultate, wenn die Menschen erkennen, dass sie mit ihrem urteilenden Denken nicht allein sind. Isolation und der Glaube, man wäre die seltene Ausnahme und alle übrigen verlebten eine vergnügliche Zeit, ist nur eine Komponente dieses mentalen Problems.
Wenn ich die Teilnehmer eines solchen Workshops ihre Listen mit Urteilen über sich selbst paarweise austauschen lasse, herrscht am Anfang große Befangenheit und Peinlichkeit, die Angst vor drohender Beschämung. Doch wenn sie dann ihre Listen miteinander durchgehen, rauscht eine Welle kollektiver Erleichterung durch den Raum. Dieses Gefühl der Erleichterung entsteht aus der Erkenntnis, dass wir alle sehr ähnliche Selbsturteile und negative mentale Muster haben. Der Gedanke, einander helfen zu können, weil wir mit ähnlichen Dingen zu kämpfen haben, weckt unseren Sinn für Kameradschaft und den Wunsch, sich gegenseitig zu unterstützen.
ÜBUNG 
Den Kritiker überall entdecken
Achten Sie in Ihrem Alltag – egal ob zu Hause, bei der Arbeit, mit Freunden, beim Einkaufen, beim Fernsehen – einmal darauf, wie der Kritiker in anderen Menschen operiert. Gut beobachten lässt sich das zweifellos auch, wenn wir uns die Tiraden von Politikern und Experten im Radio anhören, oder wenn ein Filmkritiker den neuesten Film in der Luft zerreißt.
Entdecken Sie den inneren Kritiker in Unterhaltungen, in der Art, wie die Leute sich im Spaß schlecht machen: „Ach, du weißt ja, in Mathe bin ich ein hoffnungsloser Fall.“ „Meine Haare sehen heute furchtbar aus.“ „Meine Güte, wie schrecklich ich auf diesen Fotos aussehe.“ „Gestern auf der Sitzung im Büro habe ich echt Mist gebaut.“ All das sind völlig normale Sätze, wenn wir uns miteinander unterhalten.
Beobachten Sie, was geschieht, wenn Sie solches Verhalten bemerken. Können Sie sich mit dem anderen identifizieren, wenn er oder sie schlecht über sich selbst oder andere redet? Fühlt es sich vertraut an oder sogar gemütlich? Spüren Sie so etwas wie ein kumpelhaftes Miteinander? Erkennen Sie, wie allgegenwärtig dieses Muster ist? Es ist gut möglich, dass Sie sich weniger allein fühlen, wenn Ihnen klar wird, dass Sie nicht der einzige Mensch mit einer sadistischen inneren Stimme sind. Oder empfinden Sie Mitgefühl mit der anderen Person, weil sie so negativ über sich spricht?
Je mehr Sie auf diese Weise beobachten können, umso mehr werden Sie das belastende Gefühl los, dass nur Sie allein ein Problem haben, dass es nur in Ihnen diese Stimme gibt, die Ihnen sagt, dass Sie sich schämen sollten. Und dann beginnen Sie vielleicht, ein Gefühl der Verbundenheit mit anderen zu entwickeln, ein Gefühl, dass auch Sie teilhaben an dem menschlichen Bemühen, inmitten all unserer Konditionierungen und Gedankenkreisel einen Weg zum Frieden zu finden.
KAPITEL DREI
DAS HOCHSTAPLER-SYNDROM
Wenn sie wüssten, wie ich wirklich bin …
Ich habe elf Bücher geschrieben, aber jedes Mal denke ich, „Oje oje, diesmal werden sie es merken. Ich habe allen etwas vorgespielt und jetzt ertappen sie mich.“
MAYA ANGELOU
Ein gängiges Beispiel für die Allgegenwärtigkeit des inneren Kritikers ist das Phänomen des „Hochstapler-Syndroms“ – das Gefühl, das man nicht verdient, im Leben da zu stehen, wo man steht. Nach Schätzungen leiden 70 Prozent der Bevölkerung am Hochstapler-Syndrom 6. Wie oft haben Sie schon vor einer Klasse gestanden, sind gebeten worden, als Autorität auf irgendeinem Gebiet einen Vortrag zu halten, bei einem Konzert mitzuspielen, oder wurden für das beste Sportteam ausgewählt und haben sich dabei wie ein Betrüger gefühlt? Wie steht es mit all den Malen, wo Sie als vermeintlicher Spezialist ein Interview gaben, sich aber wie ein Blender vorkamen?
Das Hochstapler-Syndrom taucht üblicherweise als die Stimme auf, die sagt: „Was glaubst du, wer du bist?“ Diese Stimme des Selbstzweifels und der Geringschätzung verfolgt Millionen. Sie erschien sogar dem Buddha in der Nacht seiner Erleuchtung. Als ich davon zum ersten Mal hörte, dachte ich: „Dann bin ich wenigstens in guter Gesellschaft!“ Ein zeitgenössischeres Beispiel für dieses überall verbreitete Muster ist Meryl Streep 7, die Schauspielerin mit den meisten Oscar-Nominierungen in der Geschichte. Sie sagte in einem Interview: „Warum würde mich irgendjemand noch einmal in einem Film sehen wollen? Und ich kann sowieso nicht schauspielern, warum tue ich das überhaupt?“
Manchmal kommt man sich wie ein Betrüger vor, wenn man den Job tatsächlich bekommt. Haben Sie je das Gefühl gehabt, dass, wenn die Leute herausfänden, wer Sie wirklich sind, sie enttäuscht wären, oder man Sie auf der Stelle feuern würde? Ob Hausmeister oder Firmenchef – wir alle sind anfällig für dieses Gefühl, ein Hochstapler zu sein.
Gegen Ende seines Lebens gab Einstein zu 8, dass er sich wie „ein unfreiwilliger Schwindler“ vorkomme. Fast alle berühmten Persönlichkeiten haben da ihre eigene Version. „Ich bin gar kein Schriftsteller. Ich habe mir und anderen etwas vorgemacht“, schrieb John Steinbeck 91938 in sein Tagebuch. Die Geschäftsführerin von Facebook, Sheryl Sandberg 10meinte einmal: „Es gibt immer noch Tage, da wache ich auf und fühle mich wie eine Hochstaplerin.“ Und natürlich, wenn wir auf die Einflüsterungen und Sticheleien unseres inneren Kritikers hören, liegt es nahe, zu glauben, dass wir Schwindler seien und es nicht verdienten, da zu sein, wo wir sind.
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