Vorhersagen sind sehr schwer, besonders was die Technologie betrifft. Ken Olsen, der Gründer der Digital Equipment Corp., wünscht sich wahrscheinlich, er hätte 1977 nicht in so überzeugtem Brustton geäußert, dass es für Privatpersonen keinen Grund gebe, zu Hause einen Computer zu haben. 30 Der CEO von Microsoft, Steve Ballmer, hielt 2007 wohl sehr wenig vom iPhone, als er verkündete: »Das iPhone hat keine Chance auf einen bedeutenden Marktanteil.« 31 Und Robert Metcalfe, der Gründer von 3Com und Erfinder des Ethernets, bedauert sicherlich seine Vorhersage von 1995, das Internet werde sich rasch zu einer spektakulären Supernova aufblähen und 1996 katastrophal kollabieren. 32 Alle diese Vorhersagen unterschätzten das Wachstum und die Akzeptanz neuer Technologien gewaltig.
Mein Interesse liegt daher nicht in einer Vorhersage der Zukunft, sondern im Aufstellen von Wegweisern, die anderen helfen, sich in der neuen Arbeitswelt zurechtzufinden. Einzelpersonen, die diese Wegweiser lesen, können ihre derzeitige Karriere mit verstärkter Zuversicht vorantreiben oder gar neue Laufbahnen erfinden und Weiterqualifizierungsstrategien entwickeln, damit sie für den Arbeitsmarkt gerüstet sind, den die KI mit sich bringen und der ganz bestimmte Fähigkeiten erfordern wird. Unternehmensleiter, die neue Arbeitsmodelle einführen und skalieren wollen, können mithilfe der Wegweiser die Chancen ausloten, die neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine am Arbeitsplatz mit sich bringen werden. Und bei politischen Entscheidungsträgern regen die Wegweiser vielleicht neue Entwürfe für Regulierungen, Gesetze und institutionelle Arrangements an, während sich neue Formen der Arbeit herausbilden. Wir brauchen solche neuen Regulierungen für alternative Beschäftigungsmodelle, die Weiterqualifizierung und Entwicklung der Arbeitskräfte, die Programme für den Übergang zwischen verschiedenen Aufgaben und zur Finanzierung des lebenslangen Lernens und Umorientierens. Zwar können wir vielleicht weder die Auswirkungen der KI verändern noch uns genügend gegen die vor uns liegenden Herausforderungen wappnen, aber wir können immerhin beeinflussen, wie wir uns neben ihnen her bewegen. Wir können in der Welt der KI und der Open Talent Economy mit ihren vielfältigen Beschäftigungsmodellen auf klügere Weise arbeiten, denken und leben. Und wir können beeinflussen, wie wir unsere Arbeitswelt und die Arbeitsplätze der Zukunft gestalten wollen.
Aussagekräftige Landkarten
Seit um etwa 16 500 vor Christus die ersten Landkarten in Höhlenwände geritzt wurden, verlassen wir uns auf diese Bilder und Navigationshilfen, wenn wir neues Terrain erforschen und einen Weg durch diese Welt finden wollen. 33 Landkarten erzählen Geschichten, sie vermitteln Wissen und zeigen uns Zusammenhänge. Wie der Autor Reif Larsen schrieb: »Eine Karte … verzeichnet nicht nur, sie erschließt und schafft Bedeutung, sie ist ein Brückenschlag zwischen Hier und Dort, zwischen scheinbar unvereinbaren Ideen, die wir nie zuvor im Zusammenhang gesehen haben.« 34 Eine Straße rechts, ein Fluss links, vor mir ein steiler Abhang. Ich als passionierter Reisender habe große Achtung vor der Aussagekraft guter Landkarten. Sie machen Informationen sichtbar und fassen sie so zusammen, dass wir schwierige Strecken und Herausforderungen bewältigen können, sei es beim Bergsteigen oder auf dem Weg zu einem neuen Restaurant. Landkarten liefern uns eine bessere Grundlage für Entscheidungen.
In den mehr als 75 Ländern, die ich besuchte oder in denen ich während meines Lebens arbeitete, haben mich Landkarten unzählige Male davor bewahrt, mich zu verirren. Ich weiß noch, wie ich als Heranwachsender mit meinen Eltern, meiner Schwester und meinem Bruder im Sommer Ausflüge machte. Immer blätterte ich in einem riesigen Straßenatlas und wies meinem Vater den Weg auf unbekannten Straßen zu neuen Zielorten. Heute bieten uns GPS-Apps auf dem Smartphone, von Google Maps bis hin zu Waze, beinahe augenblicklich mehrere Möglichkeiten an, wie wir von einem Ort zum nächsten gelangen. Sie liefern Echtzeitinformationen über Verkehr und Unfälle und leiten uns um, damit wir sicher und schnell in die gewünschte Richtung weiterfahren können. So haben wir zwar so gut wie jede Ecke der physischen Welt vermessen, aber bei der Vermessung der zukünftigen Arbeitswelt stehen wir noch ganz am Anfang.
So, wie Sherpas mich bei der Überquerung von Gebirgspfaden und Basislagern im Himalaya unterstützten, so hoffe ich, Ihnen zu helfen, den Weg durch das Rauschen und die Verwirrung zu finden, die die zukünftige Landschaft der Arbeit, der Jobs und Karrieren einhüllen, damit Ihnen die Optionen klar vor Augen liegen.
Dies ist eine Geschichte über die Bedeutung der Vermessung und der Festlegung einer Richtung sowie über die Erfordernis, neue Landkarten und gedankliche Modelle zu erstellen, bevor wir in unerforschtes Terrain vordringen. Wir müssen nicht nur den Weg kennen, sondern auch die veränderlichen Bedingungen entlang dieses Wegs. Die Bergsteigerkatastrophe von 1996 am Mount Everest führt uns die tragischen Konsequenzen vor Augen, die sich aus einer falschen Einschätzung der Bedingungen entlang der gewählten Route ergeben können. Acht Menschen starben, als sie versuchten, während eines Schneesturms abzusteigen. Nach mehreren unerwarteten Verzögerungen hatten es viele der Kletterer bis 14 Uhr noch nicht auf den Gipfel geschafft. Dies galt jedoch als der letztmögliche Zeitpunkt, um nach der Umkehr noch sicher vor Einbruch der Dunkelheit das Lager zu erreichen. Am Nachmittag begann der Schneefall und das Licht wurde schwächer. Schon bald fanden sich die Bergsteiger mitten in einem ausgewachsenen Schneesturm wieder. Die Sicht war stark eingeschränkt und die befestigten Seile waren unter dem Schnee verborgen. Einige der Bergsteiger erlitten Erfrierungen, andere verloren das Bewusstsein. 35
Die Bergsteiger starben aufgrund eines plötzlich einsetzenden Schneesturms, der sie überraschte, und – was vielleicht am wichtigsten ist – aufgrund der Entscheidung, den üblichen Zeitpunkt der Umkehr hinauszuzögern. Die Menschen hatten die Umgebung und auch ihre Fähigkeit, die Kräfte der Natur zu beeinflussen, nicht realistisch eingeschätzt. Mein Ziel ist es, Reisenden in der neuen Arbeitswelt die neuen Routen ebenso deutlich vor Augen zu führen wie die veränderlichen Bedingungen, die sie unterwegs wahrscheinlich antreffen werden. Das Wissen über die vor Ihnen liegenden Situationen und die Auswahl der richtigen Partner für Ihre Reisen sind für den Erfolg entscheidend wichtig.
Ein Sherpa des 21. Jahrhunderts
An dieser entscheidenden Weggabelung in unserer Geschichte der Arbeit und der Wirtschaft verspüre ich den dringenden Wunsch, meine Erkenntnisse weiterzugeben. Ich möchte realistische Erwartungen setzen und die Leser dazu anleiten, Aktionspläne für sich zu entwerfen. Ähnlich wie ein Sherpa oder Reiseführer hoffe ich, dass ich anderen beim Durchqueren einer Landschaft behilflich sein kann, die manchmal sehr bedrohlich wirkt.
Nach dem College, als ich als Freiwilliger des US-Friedenskorps zwei Jahre lang in Nepal lebte und dort in einem Dorf Mathematik und Naturwissenschaften unterrichtete, lernte ich viele sehr fähige Sherpas kennen. Als ich beschloss, einen Teil des schwierigen Annapurna Circuit entlangzuwandern – eine etwa 200 Kilometer lange Trekkingroute rund um einige der höchsten Berge der Welt und durch einige der extremsten Klimazonen –, wusste ich, dass ich einen erfahrenen Führer brauchen würde. Da wurde mir der Unterschied zwischen einem Bergsteiger (ich), einem Träger und einem Sherpa klar. Ein Bergsteiger besteigt in der Regel einmal einen bestimmten Berg. Ein Träger trägt seine Ausrüstung in einem Korb den Berg hinauf (dafür sind wir alle sehr dankbar). Sherpas dagegen sind Angehörige einer Volksgruppe in Nepal, die im Himalaya lebt. Sie sind für ihre überlegene Kraft und Ausdauer berühmt und dafür, dass sie das Terrain und die Umgebung besser kennen als jeder andere.
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