»Wo wollt ihr denn hin?«, kreischte Gladys. »Ich stehe hier knöcheltief im Bier! Das schaffe ich nicht allein!«
»Wir brauchen nicht lang, und ich zahl dir heute Abend doppelten Lohn.« Granny trank den Whisky in einem einzigen Schluck und schenkte sich dann gleich einen zweiten ein.
»Das wird nicht helfen«, sagte Fliss.
»Du warst ja noch nie betrunken, woher willst du das also wissen?«, sagte Granny ärgerlich und drehte sich dann zu Betty um. »Hatte ich euch beiden nicht gesagt, ihr sollt nach oben gehen?«
Wie betäubt legte Betty ihre Hände auf Charlies Schultern und schob sie in Richtung Treppe. Als sie die Stufen hinaufstiegen, versuchte Betty, sich auf normale, alltägliche Dinge zu konzentrieren, betrachtete die abgeblätterte Tapete und den ramponierten Teppich. Das hier war ihre Welt, nicht eine, in der muffige alte Reisetaschen Leute von einem Ort zum anderen beförderten. Vielleicht war ja Schnupftabak in der Tasche gewesen, überlegte sie. Etwas, was sie vorübergehend benebelt hatte. Das war die einzige vernünftige Erklärung.
Sobald sie in der Küche waren, setzten sich Betty und Charlie an den Tisch. Charlie zog ihre Knie an und lugte über sie hinweg wie eine verängstigte kleine Maus, die Augen weit aufgerissen. Granny zog einen Stuhl hervor und verscheuchte schimpfend eine zerzauste schwarze Katze, die darauf gesessen hatte.
»Verschwinde!«, blaffte sie das fauchende Tier an. Die Katze hasste jeden, nur Charlie versuchte immer wieder, sich mit ihr anzufreunden. Sie war eines Tages einfach ins Haus spaziert (auch wenn Betty vermutete, dass Charlie sie mit Essensresten angelockt hatte), und jetzt wurden sie die Katze nicht mehr los. Granny hatte strenge Anweisung erteilt, ihr keinen Namen zu geben, und jedes Mal, wenn die Katze Anstalten machte, Charlie zu kratzen, rief sie »Pfui!« und fuchtelte mit dem Besen, aber die Katze kam immer wieder zurück und machte, was sie wollte. Und dank Charlie hatte sie nun doch einen Namen.
»Arme Pfui«, murmelte sie, als die Katze die Treppe hinunterschlich.
Fliss füllte die Teekanne. Granny setzte sich an den Kopf des Tisches, nahm ihre Pfeife hervor und stopfte sie mit Tabak.
Eine Minute später stellte Fliss jedem eine Tasse Tee auf den Tisch und rührte haufenweise Zucker hinein. »Das hilft, wenn man unter Schock steht.«
»Nicht so gut wie Whisky«, brummte Granny und griff wieder nach ihrem Glas.
Fliss schnaubte missbilligend. Dann fing Charlie an zu schluchzen.
»Na, na.« Granny tätschelte ihren Arm. »Ich weiß, du bist jetzt ein bisschen durcheinander. Weine ruhig und lass alles raus.«
Ein bisschen durcheinander? Und dabei war das wohl noch nicht alles, Granny wollte doch noch mit etwas anderem herausrücken, mit irgendeiner Erklärung, warum sie in Krähenstein gefangen waren. Das muss aber schon eine gute Erklärung sein, dachte Betty. Eine echte, solide Begründung, um ihre Träume zu zerschlagen, und nicht nur fadenscheinige Befürchtungen.
Charlie weinte noch immer. Ihr Körper wurde jetzt von heftigem Schluchzen geschüttelt. »Granny? Ich verstehe nicht, was da gerade passiert ist. Bist du eine … eine Hexe?«
»Eine Hexe ? Du liebe Zeit, nein!«, rief Granny.
»A-aber deine T-tasche …«
»Ja, ja, ich weiß. Erst waren wir an einem Ort, dann landeten wir an einem anderen. Es ist eine Reisetasche, kein Hexenbesen. Und weißt du was? Eines Tages wird sie dir gehören!«
Da wimmerte Charlie nur noch lauter.
»Aber wie …?«, begann Betty. Denn auch wenn Granny es abstritt, Betty konnte nicht anders, als weiter darüber nachzugrübeln. Hexen gab es in der Wirklichkeit nicht, oder etwa doch?
»Ich weiß es nicht.« Granny zündete ihre Pfeife an und nahm einen tiefen Zug. Dichter Rauch hüllte sie ein, der stark nach Nelken und anderen Gewürzen roch. »Ich weiß nicht, wie es funktioniert, ich weiß nur, dass es funktioniert.«
»Musst du unbedingt rauchen?«, schimpfte Fliss und rückte ihren Stuhl weg. »Du weißt, was für ein Gestank das ist und dass wir den Rauch nicht gerne einatmen.«
» Ich will auch nicht, dass ihr ihn einatmet«, sagte Granny. »Das ist mein Rauch. Ich habe viel Geld dafür bezahlt.«
Das vertraute Gezänk schien Charlie etwas zu beruhigen. Ihr Schluchzen wurde zu einem leisen Schniefen. Schließlich streckte sie den Arm aus und griff nach ihrer Tasse wie eine Maus, die sich ein Stück Käse schnappt und damit zurück in ihr Loch flitzt.
Betty nahm einen großen Schluck Tee und verzog das Gesicht. Er war schwach und zu süß, genauso miserabel wie alles, woran sich Fliss in der Küche versuchte. »Wie lange weißt du schon davon, Fliss? Du scheinst von all dem ja nicht gerade überrascht zu sein.«
»Seit ein paar Monaten.« Fliss spielte mit einem kleinen Zopf, den sie in ihr Haar geflochten hatte. »Granny hat es mir an meinem Geburtstag erzählt.«
Dann hatte sich Betty die Veränderung ihrer Schwester also doch nicht eingebildet. Die ganze Zeit über hatte Fliss ihr Dinge verheimlicht. Grannys Geheimnisse gehütet. Die Fäden der Eifersucht verknüpften sich immer fester und mischten sich mit dem Gefühl eines Vertrauensbruchs. Warum hatten Fliss und Granny ihr beide nicht vertraut?
Granny paffte eine weitere Wolke süßlichen Rauchs in die Luft. »Das ist noch nicht alles.«
Betty schwieg. Das hatte sie sich schon gedacht.
»Dieser … dieser Spiegel, den Granny mir zum Geburtstag geschenkt hat«, fuhr Fliss fort. »Der kann auch etwas.«
Charlie lugte über den Rand ihrer Teetasse. »Der Meerjungfrau-Spiegel?«
Betty taten die Finger weh, weil sie ihre Tasse so fest umklammert hielt. Sie stellte die Tasse auf den Tisch. »Und was kann der Spiegel?«
Fliss warf einen Blick zu Granny und wurde ganz rot im Gesicht. »Er … er lässt mich mit Leuten reden, die … nicht da sind.«
»Die nicht da sind?«, wiederholte Betty. Vor diesem Abend hätte sie darüber gespottet – vor dem ganzen Hokuspokus mit Grannys Reisetasche. Sie hätte gern geglaubt, das alles wäre ein raffinierter Trick, um sie dafür zu bestrafen, dass sie ausgerissen war, aber sie wusste, Granny würde normalerweise nie eine Gaststätte voller durstiger Gäste im Stich lassen – und Fliss war genauso schlecht darin, zu lügen, wie zu kochen. »So was wie … Geister?«
Charlie stieß ein erschrockenes Krächzen aus.
»Nein!«, sagte Fliss eilig. »Nicht so etwas. Leute, die woanders sind. Auf der anderen Seite der Insel vielleicht oder einfach im Zimmer nebenan. Auf einer der Inseln des Jammers – oder weiter weg.«
Die Inseln des Jammers . Sofort musste Betty an ihren Vater denken. Hatte Fliss den Spiegel benutzt, um mit ihm zu sprechen? Sie öffnete den Mund, um zu fragen, aber dann überlegte sie es sich anders. Barney Widdershins konnte warten. Zu viele andere Fragen zu diesen merkwürdigen Gegenständen drängten sich in ihrem Kopf nach vorn und verlangten Antworten.
Betty nippte noch einmal an ihrem Tee. Der Schock wich allmählich von ihr, und sie fing an zu zittern. So etwas wie magische Gegenstände gab es doch gar nicht, höchstens in Träumen und Geschichten … Aber so vernünftig Betty auch war, sie konnte nicht leugnen, was sie da vorhin erlebt hatte – und sie wusste, dass sie nicht träumte. Wie war es möglich, in Sekundenschnelle von einem Ort zu einem anderen zu reisen, einfach indem man eine alte Tasche umstülpte? Und wie konnte jemand durch Spiegelglas mit Leuten an anderen Orten sprechen? Es gab nur eine Möglichkeit, so etwas zu beschreiben: Magie. Sie erinnerte sich an andere Momente, als sie mit Fliss und Charlie versucht hatte auszureißen und Granny sie in letzter Minute aufgespürt hatte … und dass Granny nie zu spät kam – egal, wohin. Jetzt ergab das alles einen Sinn.
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