»Und Vater weiß also von dem Fluch«, stellte Betty fest.
»Ja, wie ich vorhin schon sagte«, meinte Granny mit düsterer Stimme. »Bei so einer Sache … muss die ganze Familie Bescheid wissen, sonst wäre das zu gefährlich. Ich frage mich oft, ob es neben dem Tod eurer Mutter auch Schuldgefühle waren, die ihn auf die schiefe Bahn gebracht haben.«
»Schuldgefühle?«, fragte Fliss. »Du meinst … weil er den Fluch an uns weitergereicht hat?«
Granny nickte. »Er hasst die Ungerechtigkeit dieses Fluchs, durch den keine Widdershins-Frau Krähenstein je verlassen kann. Und doch hat er durch seine eigene Torheit dafür gesorgt, dass er jetzt genauso gefangen ist wie wir.«
»Und Mutter?«, fragte Betty. »War es wirklich ein Unfall, wie du gesagt hast, oder war … war es der Fluch?«
Charlie war gerade erst geboren worden, aber Fliss und Betty erinnerten sich beide an den Morgen, an dem Granny ihnen die Nachricht überbracht hatte, dass ihre Mutter tot war. Granny und Vater waren beide krank gewesen, wobei es Vater besonders schlimm erwischt hatte. Ihre Mutter war in der Nacht losgelaufen, um einen Arzt zu holen. Ein dichter Nebel hatte über der Insel gelegen, und so war sie vom Weg abgekommen, auf einen dünn zugefrorenen Teich geraten und im Eis eingebrochen.
»Nein, da habe ich euch die Wahrheit gesagt.« Granny rieb sich ihre rote Nase. »Ich weiß nicht, ob ihr euch dadurch besser oder schlechter fühlen werdet, aber bei eurer Mutter war es nicht der Fluch. Es war einfach Pech.«
Pech: der unerwünschte Gast, den Granny immer versuchte, mit all ihren Glücksbringern abzuwehren. Doch es nützte alles nichts. Ihre Eltern waren fort. Die Gaststätte brachte nicht mal genug ein, um die Schulden zu tilgen. Fliss hatte ständig einen neuen Freund, und alle Reisepläne, die Betty jemals geschmiedet hatte, waren kläglich gescheitert. Selbst Charlie bekam laufend Läuse. Ja, dachte Betty. Man konnte wohl sagen, dass sie nicht gerade in Fortunas Gunst standen. Vielmehr schien die Glücksgöttin die Straßenseite zu wechseln, wenn sie die Widdershins kommen sah.
Sie wurden von ordinärem Gejohle unterbrochen, begleitet von einem rhythmischen Poltern aus dem Untergeschoss. Einen Augenblick später hörte man, wie eine Tür aufgerissen wurde. »Bier! Bier! Bier!« , grölte es von unten, gefolgt von einer kreischenden Gladys am Fuße der Treppe: » Bunny! Wenn mir hier nicht sofort jemand hilft, bin ich weg!«
»Sie hauen mit den Fäusten auf den Tresen, diese Rüpel!«, rief Granny erbost. Sie sprang mit neuer Energie von ihrem Stuhl auf, dass ihre Kniegelenke knackten. »Jetzt fang dich mal wieder, Fliss«, sagte sie. »Und dann komm mit runter. Wir sind schon viel zu lange weg.« Sie ging aus der Küche, und einen Moment später brandete der Lärm unten noch einmal auf, als Granny durch die Tür in die Bar platzte. Kurz schien der Bann gebrochen zu sein, der über der Küche gelegen hatte, und alles fühlte sich fast schon wieder normal an.
Normal? Wie konnte da unten das Leben weitergehen wie immer, wenn sich für Betty doch alles verändert hatte? Die ganze Zeit hatte sie geglaubt, sie hätte ihr Schicksal selbst in der Hand, aber wenn das, was Granny erzählt hatte, die Wahrheit war, dann war das hier ihr einziges Schicksal. Eines, aus dem es kein Entkommen gab.
Betty warf einen Blick zu ihren Schwestern. Charlie, der es vor Entsetzen die Sprache verschlagen hatte, lutschte an ihrem Daumen, was sie sich eigentlich längst abgewöhnt hatte. Fliss grübelte still vor sich hin.
»Du hättest mir von dem Fluch erzählen sollen«, sagte Betty schließlich. Sie fühlte sich bleiern schwer, als würden die Enthüllungen des Abends sie erdrücken wie Steine, die aus der Mauer des Gefängnisturms gefallen waren.
Fliss sah mit müdem Blick zu ihr auf. »Ich wollte dir die Hoffnung nicht nehmen, dass du diesen Ort eines Tages verlassen kannst.«
Betty spürte, wie die Wut in ihr hochkam. »Und was soll das, wenn es doch nie möglich sein wird? Wäre es da nicht menschlicher gewesen, die Wahrheit zu sagen?«
»Ja, ich meine … nein, ach, ich weiß nicht!« Fliss biss sich auf die Unterlippe. »Ich wollte das ja, aber ich musste Granny versprechen, nichts zu sagen.«
»Das hat dich doch sonst auch nicht davon abgehalten«, sagte Betty mit einem gekränkten Ton in der Stimme. »Wir haben uns immer alles erzählt.«
Fliss’ Wangen färbten sich rot. »Weißt du noch, als du klein warst?« Sie warf einen bedeutungsvollen Blick zu Charlie. »Die Sache, die ich dir erzählt hab?«
Betty nickte mürrisch. Als Fliss acht gewesen war und Betty erst fünf, hatte Fliss herausgefunden, dass die Zahnfee nicht echt war, sondern dass es Granny gewesen war, die einen Kupferraben unter das Kopfkissen gelegt hatte. Sie hatte sofort Betty davon erzählt. Granny war furchtbar wütend gewesen und hatte Fliss das lange nachgetragen.
»Ich hab mir das nie verziehen«, sagte Fliss leise. »Dass ich dir den Zauber verdorben hab. Dabei hättest du ihn noch eine Weile länger haben können.«
»Das ist aber nicht das Gleiche«, sagte Betty. »Das war ein alberner Kinderglaube. Ein Familienfluch ist etwas ganz anderes!«
»Das finde ich nicht. Letzten Endes geht es um das Gleiche, nämlich Unschuld.« Fliss lächelte verkrampft. »Und die wollte ich dir gerne noch eine kleine Weile erhalten. Dass diese Sache nicht das Erste ist, woran du am Morgen denkst, und das Letzte am Abend. Denn wenn es erst einmal raus ist, dann war’s das.« Ihre Augen glänzten auf einmal. »Für den Rest unseres Lebens.«
Den Rest unseres Lebens. Betty sah ihrer Schwester in die Augen, in denen sich ihre eigene Verzweiflung widerspiegelte. Sie hatte sich schon vorher eingeengt gefühlt, aber das war nichts gewesen gegen das, was sie jetzt empfand. Der Fluch hatte sich ihr wie eine unsichtbare Schlingpflanze um den Hals gelegt und jede Hoffnung aus ihr herausgepresst. Und selbst Magie konnte keine Entschädigung dafür sein.
Stunden später lag Betty hellwach in ihrem Bett, die leise schnarchende Charlie neben sich. Nach ewigem Hin- und Herwälzen und Daumenlutschen war sie endlich in einen ruhelosen Schlaf gefallen. Um sie zu beruhigen, hatte Betty ihr jede Geschichte erzählt, die ihr einfiel – doch keine war so merkwürdig und düster wie jene, die sie heute gehört hatten.
Von unten war das Plappern von Stimmen zu hören. Was führten sie doch für ein seltsames Leben, dachte Betty. Auch wenn die Gaststätte ihnen gehörte, kam es ihr doch nie so vor. Immer war das Raunen fremder Stimmen zu hören, immer das Knarzen fremder Schritte.
Selbst ihr Zimmer musste Betty teilen, ein Durcheinander von Charlies Kuscheltieren, Stoffpuppen, Muscheln und Kieselsteinen. Dazwischen Bettys Bücher, Marmeladengläser voller Knöpfe und anderer nützlicher Dinge und ihr Nähzeug. Am meisten hing sie an ihrem Briefmarkenalbum und ihrer Landkartensammlung. So manch ruhigen Nachmittag hatte sie damit verbracht und sich all die Orte notiert, die sie entdecken wollte.
Ihre Leidenschaft für Landkarten hatte damit begonnen, dass ihr Vater eines Morgens mit ihr auf den Markt am Hafen gegangen war. Betty war mit der Tochter eines Kartenmachers von einem der Schiffe herumgestromert. Sie hieß Roma, und sie hatte glatte braune Haut und geflochtenes Haar sowie tausend Erinnerungen an klare türkisfarbene Meere, ausgedörrte Wüsten und schneebedeckte Berge. Betty hatte wie gebannt zugehört und sich nichts sehnlicher gewünscht, als das alles auch einmal zu sehen. Später, als Roma geholfen hatte, die Karten zu verstauen, hatte Betty so lange gebettelt, bis ihr Vater nachgegeben und ihr eine gekauft hatte: ihre erste Landkarte. Sie hatte sie gehütet wie einen Schatz, als das Schiff des Kartenmachers wieder die Segel setzte und bald nur noch ein winziger Fleck am Horizont war. Sie sahen Roma nie wieder, aber das Fernweh und die Liebe zu Karten, die sie in Betty geweckt hatte, blieben bestehen.
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