Sie blinzelte, als Grannys Pfeifenrauch ihre Augen tränen ließ. Neben ihr begann Charlie leise zu weinen. Doch Betty war zu benommen, um sie zu trösten.
»Verflucht …?«, fragte Betty tonlos. »Wie? Warum? «
»Dieselben Fragen habe ich mir auch gestellt, als ich zum ersten Mal davon erfahren habe.« Granny zog an ihrer Pfeife. Ihre Augen waren ganz glasig. »Ich dachte, es wäre nur eine Geschichte, die neugierige Mädchen daran hindern sollte, zu weit umherzustreunen. Aber selbst ich musste zugeben, dass der Tod von acht Widdershins-Mädchen im Laufe der letzten hundertfünfzig Jahre kein Zufall sein konnte. Seltsame, unerklärliche Todesfälle von gesunden Mädchen und Frauen.«
»Wann hast du denn davon erfahren?«, fragte Betty schaudernd. »War das auch an deinem Hochzeitstag?«
»Nein.« Granny lächelte matt. »Davor. Euer Großvater hat mich schon lange vorher gewarnt, als wir noch frisch verliebt waren. Er hat mir reichlich Chancen gegeben, es mir noch einmal anders zu überlegen.«
Betty starrte sie mit offenem Mund an. »Und du hast trotzdem keinen Rückzieher gemacht?«
Granny zuckte die Achseln. »Die Menschen bringen alle möglichen Opfer für …«
»Für die Liebe«, beendete Fliss den Satz. Sie legte ihre Hand auf Grannys alte, faltige.
»Entschuldige«, stotterte Betty. »Aber ich verstehe das alles nicht … es ist einfach zu seltsam.« Und verwirrend und unfair , setzte sie in Gedanken wütend hinzu. All die Möglichkeiten, die Grannys verzauberte Gegenstände zu bieten schienen, waren ihnen wieder entrissen worden, und nachdem sie die Magie selbst erlebt hatte, fiel es ihr schwerer, Grannys weitere Worte in Zweifel zu ziehen. »Bist du sicher?«, fragte sie kraftlos. »Kann es nicht auch einfach … Pech gewesen sein?«
»Ich war damals ganz ähnlich wie du«, fuhr Granny fort. »Erst habe ich mich geweigert, es zu glauben. Doch dann habe ich es mit eigenen Augen gesehen. An dem Tag, als die Anzahl der Todesopfer auf neun anstieg.«
Die Luft im Zimmer schien immer dichter zu werden, nicht nur wegen des Rauchs. Betty hatte plötzlich Schwierigkeiten zu atmen. »Neun … neun Mädchen sind gestorben?«, fragte sie zaghaft. »Ich meine … ich weiß, du hast gesagt, es passiert bei Sonnenuntergang, nachdem die Mädchen Krähenstein verlassen haben, aber was genau passiert da? Fallen sie … fallen wir … dann einfach tot um?« Sie sah Granny forschend an und machte sich auf weitere furchtbare Enthüllungen und Geschichten von tragischen Unfällen gefasst. Eine Vision zog an ihrem inneren Auge vorbei: Sie hatte das Gefühl, aus großer Höhe zu fallen, der Boden raste auf sie zu, der Wind rauschte in ihren Ohren, und eine Welle von Angst und Trauer erfasste sie. Betty kniff die Augen zusammen. Der Adrenalinschub ließ sie zittern. Was war das denn gewesen?
»Es ist immer das Gleiche«, sagte Granny. »Es fängt an mit Vogelgesang. Dem Krächzkonzert der Krähen.«
Betty runzelte die Stirn. »Aber das findet doch immer statt, wenn es abends dunkel wird, oder?«
Granny nickte. »Der Unterschied ist: Egal, wie sehr du deine Augen anstrengst, sehen kannst du die Vögel nicht. Die Geräusche existieren nur in deinem Kopf.«
Aus dem Augenwinkel sah Betty, wie Fliss schauderte.
»Dann wird es immer lauter«, fuhr Granny fort und starrte in die Ferne, als würde sie sich erinnern. »Während der Lärm anschwillt, wird dein Körper kalt und noch kälter. Und auch wenn deine Haut sich wie Eis anfühlt, ist das Letzte, was du vor dem Ende spürst, ein kalter Kuss.«
Betty bekam eine Gänsehaut. »Wie kannst du das denn … wissen ?«
Grannys Lippen bebten, und ihre Hand tastete nach dem leeren Whiskyglas. »Weil ich es bei Clarissa, der Cousine deines Vaters, gesehen habe«, sagte sie schließlich. »Ich war dabei.«
»Wusste sie denn von dem Fluch?«, fragte Betty. »Oder war es ein Versehen?«
Grannys Finger umklammerten das Glas und sanken dann wie leblos auf die Tischplatte. »Ja, sie wusste davon. Sie dachte, sie könnte den Fluch aufheben. Sie hatte von einem Ort gehört, wo man der Legende nach Wünsche aussprechen kann. Die Hufeisen-Bucht auf der anderen Seite der Marsch. Sie dachte, ein Wunsch dort könnte uns alle von dem Fluch befreien, aber es funktionierte nicht. Was auch immer für ein Zauber in dieser Bucht existiert – wenn da überhaupt einer ist –, er ist nicht stark genug, um den Fluch der Widdershins aufzuheben. Und als sie zurückkam, wusste sie schon, dass sie gescheitert war. Die Krähen krächzten in ihrem Kopf, ihre Haut war wie Eis. Wir konnten sie überhaupt nicht wärmen …«
»Sie kam zurück nach Krähenstein?«, fragte Betty. »Aber hätte das den Fluch nicht stoppen müssen, wenn sie vor Sonnenuntergang zurückkam?«
»Nichts kann ihn stoppen«, murmelte Granny mit glasigem Blick. Sie hakte ihre Daumen ineinander und fächelte ihre Finger wie Vogelschwingen über ihrem Herzen – das Zeichen der Krähe.
»Erzähl ihnen von den Steinen«, sagte Fliss. Sie sah blass und beinahe wächsern aus.
»Steine?«, hakte Betty nach.
»Jedes Mal, wenn der Fluch ausgelöst wird, fällt ein Stein aus der Turmmauer«, sagte Granny mit ungewöhnlich leiser Stimme.
»Du meinst aus dem Krähensteinturm …? Beim Gefängnis?«
Granny nickte.
»Aber was hat das Gefängnis mit dem Fluch zu tun?«, fragte Betty. Das Bild der frierenden, sterbenden Clarissa ging ihr nicht mehr aus dem Kopf, und das aschfahle Gesicht ihrer Schwester trug nicht gerade zur Beruhigung bei. Wie mutig war es gewesen, auch nur zu versuchen , den Fluch zu brechen, und dabei alles zu riskieren! Clarissa musste sich genauso sehr gewünscht haben zu fliehen wie Betty, und sie musste geglaubt haben, dass es einen Weg gab … auch wenn sie gescheitert war.
Granny zuckte die Achseln. »Der Turm ist uralt, älter als der Rest des Gefängnisses. Was seine Verbindung mit dem Fluch anbelangt, nun … da gibt es Geschichten. Aber keine, die uns verrät, wie man den Fluch brechen kann.«
Betty schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und versuchte, nicht zu weinen. Tränen würden die Probleme nicht lösen, aber das schien ihre feuchten Augen nicht zu kümmern. Vor heute Abend hatte sie noch davon träumen können, Krähenstein zu verlassen und ein anderes Leben zu leben. Sie hatte nicht geahnt, dass ihr Gefangensein hier noch mit etwas anderem zu tun hatte als mit Grannys Überbehütung; dass wegzugehen wirklich unmöglich war. Sie konnte verstehen, warum Fliss aufgegeben hatte, aber Betty konnte es nicht akzeptieren. Noch nicht. »Es muss doch einen Weg geben, den Fluch zu brechen. Es muss einfach …«
Granny stieß ein hohles Lachen aus. »Tja, das sagen alle. Glaubst du, Mädchen wie du haben nicht seit Generationen denselben Gedanken? Natürlich haben sie das. Clarissa war so entschlossen wie alle anderen! Alles, was du dir vorstellen kannst, ist versucht worden, vom Heiraten, um den Namen Widdershins loszuwerden, bis zu der Idee, etwas aus Krähenstein mitzunehmen oder etwas von sich selbst in Krähenstein zurückzulassen. Nichts hat funktioniert. Jetzt wisst ihr also, warum ich nicht zulassen kann, dass einer von euch das zustößt.« Sie griff unvermittelt nach Bettys Hand und riss sie aus ihren Gedanken. »Bitte, Betty.« Ihre durchdringenden alten Augen wirkten ruhelos. »Ich flehe dich an … versuch es nicht . Ich könnte das nicht noch mal ertragen, nicht mit einer von euch. Das würde ich nicht überleben.«
Betty hatte das Gefühl, als würde sich ihr Herz zusammenziehen. Das letzte Mal, dass sie Granny so verletzlich gesehen hatte, war an dem Tag gewesen, als man ihren Vater abgeführt hatte. Es war leicht, so zu tun, als würde es diese Seite in ihr nicht geben, wenn sie so gut verborgen war.
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