Der gleich daneben wäre mir lieber gewesen, dachte Orsini. Die junge Frau mit den langen, dunkelbraunen Haaren am grünen Schreibtisch unterhielt sich aber gerade mit einem anderen Kunden.
„Mitterbauer, Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?“ Mit diesen Worten sprang der junge Mann auf und streckte Orsini seine makellos gepflegte Hand entgegen. Antrainiertes reflexhaftes Verhalten angesichts eines potenziellen Kunden, analysierte Orsini. Groß, blond, mittelteurer Anzug, überdimensionale rosarote Krawatte und ein ebensolcher, dem vorherrschenden Modediktat unterworfener bombastischer Krawattenknoten. Frisch rasiert, zwischen fünfundzwanzig und dreißig, schätzte Orsini und mit einer ausgesprochen unsympathischen Ausstrahlung. Typ: Abschluss und Prämie kassieren. Wird wohl nicht lange hier sitzen, sondern bald nach oben wandern. Allerdings ... Orsinis Blick blieb erstaunt am Revers des makellosen Anzugs hängen. Herr Mitterbauer hatte doch keine so weiße Weste.
„Wollen Sie ein Konto eröffnen, Herr …“
„Orsini ... Nein, nichts dergleichen. Ich wollte nur fragen, ob ein Herr Heinrich Novak, Geschäftsmann, fünfundachtzig, bei Ihnen Kunde ist?“
Der junge Angestellte tippte den Namen in seinen Computer, schaute Orsini an und sagte: „Ist wohl vor Kurzem verstorben, mein aufrichtiges Beileid, andererseits natürlich ein schönes Alter. Sie sind wohl ein Angehöriger ... zeichnungsberechtigt?“
„Nicht direkt, ich bin von seiner Tochter beauftragt worden …“
War der Bankangestellte vorhin noch geschäftsmäßig höflich, so veränderte sich sein Verhalten jetzt grundlegend. „Also, wenn Sie kein Angehöriger sind ...“
„Ich brauche auch nur ...“
„Dann kann ich Ihnen natürlich keine Auskunft über die Finanzangelegenheiten des Verstorbenen geben.“ Damit stand der junge Mann abrupt auf. „Sie entschuldigen mich, ich habe jetzt meine Mittagspause.“ Er reichte Orsini nicht einmal mehr die Hand und verschwand Richtung Treppe in den oberen Stock.
Die junge Frau vom Nebentisch hatte die Szene bemerkt. Sie erhob sich, um sich von ihrem Kunden zu verabschieden und trat zu Orsini an den Tisch. Mit einer Handbewegung warf sie ihre langen Haare energischen nach hinten. „Was ist denn mit unserem allseits beliebten Herrn Mitterbauer passiert? So habe ich ihn ja noch nie gesehen, vor allem nicht, wenn es ums Geldverdienen geht“, sagte sie in verschwörerischem Ton und setzte sich. Ihre Ellbogen waren auf die Armlehnen gestützt und ihre Finger ineinander verschränkt, sodass sich ein annähernd gleichseitiges Dreieck gebildet hatte. Mit dem Kinn fuhr sie langsam die Fingergelenke entlang. Heller Teint, kein Make-up, nur der Hauch eines dunklen Lippenstiftes. Sie sah ihn einen Augenblick abwägend an und warf dann einen Blick auf den Computerbildschirm.
„Scheine nicht sein Typ zu sein“, erwiderte Orsini lakonisch.
„Gott sei Dank!“, antwortete die Bankbeamtin schmunzelnd. „Kann vielleicht ich Ihnen helfen oder haben Sie genug von unserer Bank und ihren netten, zuvorkommenden Mitarbeitern?“
„Von Mitarbeitern dieses Schlages schon, wie das mit den Mitarbeiterinnen ist, kann ich im Moment nicht sagen, aber fragen Sie mich doch in fünf Minuten noch einmal, Frau …?“
„Zechner“, erwiderte sie mit einem Lächeln. „Was war denn der Grund für Ihre ... na ja, Auseinandersetzung. Ich sehe auf dem Bildschirm die Daten für das Konto eines Herrn ... Heinrich Novak. Dem Alter entnehme ich aber, dass das nicht Sie sein können, oder?“ Das letzte Wort hatte sie absichtlich betont.
Orsini beschloss ehrlich zu sein und erklärte ihr, dass er im Auftrag der Tochter des Verstorbenen ermittle.
„Ihnen ist schon klar, dass Herr Mitterbauer in dieser Hinsicht richtig gehandelt hat und auch ich Ihnen eigentlich darüber zum Schweigen verpflichtet bin ..., aber er hat die Seite mit den Kontoauszügen offen gelassen ...“
Orsini hatte die beiden Worte eigentlich und aber registriert. „Natürlich ist mir das klar. Es ist nur so, dass sich der Notar erst in drei Wochen der Angelegenheit widmen kann und meine Klientin beunruhigt ist. Sie möchte hauptsächlich wissen, ob das Konto gedeckt ist, beziehungsweise ob Schulden ...“
Die Bankbeamtin nickte. „Gedeckt schon, aber gerade so ...“
„Und eine größere Summe?“ Orsini dachte an das Verkaufsanbot für das Haus des Posamentenhändlers.
Sie sah nun mit einem besorgten Blick hinter Orsini und gab ihm dabei ein stilles Nein-Zeichen. „Hören Sie, ich kann jetzt nicht mehr länger, Herr Mitterbauer kommt zurück“, flüsterte sie.
„Danke, Sie haben mir sehr geholfen!“, erwiderte Orsini, erhob sich und wandte sich Herrn Mitterbauer zu, der gerade die letzten Stufen der Treppe herunterkam.
Er hatte Orsini mit seiner Kollegin an seinem Tisch sitzen gesehen und war jetzt noch aufgeregter als zuvor. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ...“, fuhr er Orsini aufgebracht an. Orsini tippte mit seinem Zeigefinger auf das Revers seines Gegenübers und unterbrach ihn routiniert: „Ganz ruhig, junger Mann! Kokser wie dich erkenn ich schon auf Entfernung, vor allem wenn sie so blöd sind und Spuren auf dem Anzug hinterlassen!“ Orsini zog seinen Finger zurück, hielt ihn sich vor die Nase, schniefte laut, während er den jungen Mann fixierte und verließ dann die Bank.
Draußen sah Orsini sich um und betrat ein kleines Stehcafé. Dort bestellte er einen kleinen Braunen, trank den Kaffee aus, zahlte und ging retour in die Bank.
Der wieder an seinem Tisch sitzende Herr Mitterbauer trug immer noch eine gewisse Blässe im Gesicht. Als er Orsini auf sich zukommen sah, zuckte er zusammen. Erschrocken nestelte er an seinem Krawattenknopf herum und atmete erleichtert auf, als Orsini an seinem Tisch vorbeiging. Die nette Angestellte hatte einen neuen Kunden und sah überrascht auf. Sie erhob sich, entschuldigte sich bei ihrem Gegenüber für die Störung und wandte sich an Orsini: „Ich kann jetzt leider nichts mehr für Sie tun ...“
„Es ist nur“, begann er verlegen, „darf ich Sie zum Essen einladen? Und ich verspreche hiermit feierlich, Sie nicht weiter auszufragen!“
„Das … das kommt jetzt doch … überraschend!“
„Ich weiß, und ich entschuldige mich auch sofort dafür.“
„Aber, na ja, Dienstag nächste Woche ginge“, meinte sie etwas unsicher und sah zu ihrem Tisch. Dort machte sich der wartende Kunde bemerkbar, indem er den Sessel knarrend hin und her schob.
„Kennen Sie das italienische Restaurant in der Piaristengasse?“
„Nein, aber ...“
„Ist nicht zu übersehen, neunzehn Uhr – und wenn Sie es sich anders überlegen, können Sie mich ja anrufen. Ich gebe Ihnen meine Visitenkarte“, antwortete Orsini und zog ein Kärtchen aus der Innentasche seines Mantels.
„Nur eines noch“, erwiderte die Bankangestellte, steckte ihm verstohlen ebenfalls ein Kärtchen zu und schaute Orsini dabei fragend an, „was haben Sie eigentlich mit unserem Herrn Mitterbauer gemacht – er wirkt so … so ruhig?“
„Der Herr Mitterbauer“, tat Orsini überrascht, „hat sich vermutlich bei jemandem angesteckt, die Nase ... oder vielleicht hat er auch nur die falschen Medikamente eingenommen – also dann bis Dienstag“, verabschiedete er sich schnell und verließ endgültig die Filiale.
Orsini blickte auf seine Uhr und schüttelte sie mit der typisch drehenden Bewegung, um dem alten Automatikgetriebe wieder neue Energie zuzuführen. So wie er es immer tat. Es war kurz nach Mitternacht. Unschlüssig stand er an der Ecke zur Weißgerber Lände, ganz in der Nähe seiner Wohnung und war wie meist um diese Zeit hellwach.
Die Straße hatte ihren Namen von den früheren Handwerksbetrieben, die sich in der Kaiserzeit hier angesiedelt hatten. Als dann mit enormem menschlichen Verschleiß die Jahr für Jahr flutende Donau in harmlosere Bahnen gelenkt wurde und Wien einen hochmodernen Kanal erhielt, war es im Wiener Großbürgertum en vogue gewesen, an der Lände ein eigenes Haus zu errichten. Repräsentativ, mit hohen Innenräumen, an der Fassade verspielte Figuren und ganz oben der Familienname in großen Lettern. Das Mezzanin war gerade erfunden und der erste Stock dabei nach oben versetzt worden. Somit konnten die Besitzer gleichzeitig in der Beletage wohnen und doch mit der tollen Aussicht vom Balkon prahlen.
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