Besonders in Deutschland konzentrierte sich der Aufbau der palliativmedizinischen Versorgung zunächst vorwiegend auf die Spezialversorgung im stationären Sektor. Erst in den letzten Jahren sind zunehmend auch ambulante Versorgungsmodelle entwickelt worden, die in anderen Ländern, besonders in Großbritannien, schon sehr viel früher zum Tragen kamen und inzwischen sogar im Vordergrund stehen. Der hohe Stellenwert der Palliativmedizin im Rahmen der gesundheitlichen Versorgung spiegelt sich in Deutschland in den Gesetzesregelungen zur spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) im Rahmen des im April 2007 in Kraft getretenen GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes (GKV-WSG). Demnach haben nach §§ 37b und 132d des SGB V Versicherte mit einer nicht heilbaren, fortschreitenden und weit fortgeschrittenen Erkrankung bei einer zugleich begrenzten Lebenserwartung, die eine besonders aufwändige Versorgung benötigen, Anspruch auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung. Die spezialisierte ambulante Palliativversorgung umfasst ärztliche und pflegerische Leistungen einschließlich ihrer Koordination, insbesondere zur Schmerztherapie und Symptomkontrolle, und zielt darauf ab, die Betreuung der Versicherten in der vertrauten häuslichen Umgebung zu ermöglichen. Nach verschiedenen Untersuchungen können 80–90 % der im Rahmen der spezialisierten ambulanten Versorgung betreuten Patienten zu Hause sterben.
Das im Vergleich zu anderen Ländern in Deutschland stärker ausgebildete Drei-Säulen-Modell der Palliativversorgung stützt sich im Wesentlichen auf Palliativstationen, die vorwiegend Patienten mit besonderen medizinischen Problemen behandeln. In stationäre Hospize können Patienten mit einem aufwändigen Betreuungsbedarf für die letzte Zeit des Lebens aufgenommen werden, bei denen eine Krankenhausbehandlung nicht oder nicht mehr erforderlich ist und die weder zu Hause noch im Pflegeheim angemessen betreut werden können. Ein wesentliches Ziel von Palliative Care ist es jedoch, die Betreuung und Begleitung von Sterbenden im häuslichen Bereich zu ermöglichen.
Eine Bestandsaufnahme des Jahres 2008 von palliativmedizinischen Versorgungsangeboten in der Schweiz ergab, dass das Angebot an spezialisierter Palliative Care regional sehr unterschiedlich ausgeprägt war und es insbesondere auch an einer gemeinsamen definitorischen Bestimmung fehlte. Vor diesem Hintergrund wurde eine »Nationale Strategie Palliative Care 2010–2012« verabschiedet, die nicht nur eine Aufarbeitung der bestehenden Angebote vorsieht, sondern auch eine Optimierung der Vernetzung von Grundversorgern, mobilen Diensten und spezialisierten Angeboten (Eychmüller et al. 2010, S. 409–413). Im Jahre 2015 wurde die erweiterte »Nationale Strategie Palliative Care 2013–2015« in eine Plattform überführt, um den Wissensaustausch zwischen den beteiligten Akteuren zu fördern und wohnortnah qualitativ hochwertige multiprofessionelle Palliative Care Angebote allen Menschen bedarfgerecht zur Verfügung zu stellen. Stärker als in Deutschland oder in der Schweiz konzentrierte sich in Österreich die Umsetzung von Hospiz und Palliative Care auf Alten- und Pflegeheime sowie auf die ambulante Versorgung. Das Land Vorarlberg spielte hier eine Vorreiterrolle. Die Betreuung sterbender Menschen bedarf sowohl besonderer Organisationsmodelle als auch der Vermittlung von Fachkompetenz. So wurde schon im Jahr 2003 ein ambitioniertes Projekt verabschiedet, das Bausteine der abgestuften Hospiz- und Palliativversorgung enthielt und sich stark auf eine Vernetzung ambulanter und stationärer Strukturen konzentrierte. Als wesentliches Element einer guten Palliativversorgung werden mobile Palliativteams angesehen, die insbesondere auch die sozialen Probleme von schwerstkranken Menschen und deren Angehörigen aufnehmen können. Inzwischen gilt Österreich als eines der engagiertesten Länder in der psychosozialen Palliativbetreuung z. B. durch eine Familienkarenzregelung, die die Freistellung von der Normalarbeit zur Begleitung des Sterbens ermöglicht.
Nach verschiedenen Berechnungen kann man weiterhin davon ausgehen, dass ca. 10–12 % aller sterbenskranken Menschen im letzten Jahr ihres Lebens eine spezialisierte Palliativversorgung benötigen. In Deutschland wären das bei ca. 950.000 Menschen, die jährlich sterben, ca. 95.000–115.000 Sterbende. Der Bedarf an spezialisierter Palliativbetreuung hängt natürlich davon ab, wie gut die allgemeine palliativmedizinische Betreuung eines Menschen ist, aber auch von den sozialen Rahmenbedingungen (Müller-Busch 2008, S. 7–14).
Eine besondere Bedeutung wird Palliative Care in den nächsten Jahren aufgrund der demografischen Entwicklung für die Betreuung alter und hochbetagter Menschen haben. Die Altersstruktur der Bevölkerung verschiebt sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zugunsten der älteren Altersgruppen – eine Entwicklung, die sich noch weiter beschleunigen wird. Insbesondere die Anzahl der Hochbetagten wird in Zukunft erheblich anwachsen. Etwa 30 % der Menschen über 80 Jahre und 50 % der Menschen über 90 Jahre sind pflegebedürftig (Kuhlmey und Schaeffer 2008, S. 80–92). 60 % der über 80-Jährigen haben chronische Schmerzen, ca. 600.000–900.000 Krebs, je 20 % haben eine Depression oder eine Demenz. Für die Versorgung dieser Menschen stellt der bedürfnisorientierte Ansatz von Palliative Care eine wchtige Orientierung in der gesundheitlichen Versorgungsplanung dar. Praktische und ethische Fragen in der medizinischen und psychosozialen Betreuung alter Menschen werden die Gesundheitsversorgung in den nächsten Jahren wesentlich bestimmen.
Die Betreuung alter und hochbetagter Menschen unter palliativen Aspekten wird in den nächsten Jahren eine der größten Herausforderungen in der Medizin und im sozialen Miteinander werden. Die Prinzipien, die durch Palliative Care wieder stärker in die Debatte zur Versorgung aber auch zu Entscheidungsproblemen am Lebensende hineingetragen wurden, stellen hier eine wichtige Orientierung dar.
Zur Palliativmedizin bzw. Palliative Care gehört nicht nur die Linderung körperlicher Symptome, sondern vor allem auch ein die individuelle Lebenssituation berücksichtigendes Verständnis des Leidens sowie Zeit und Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen des Krankseins und Sterbens, die im medizinischen Alltag meist nicht vorhanden sind. Dies erfordert eine personale, am bio-psycho-sozialen Modell orientierte Herangehensweise, die den kranken Menschen mit seinen biografischen Besonderheiten, gesunden Potenzialen und tragfähigen sozialen Bezügen in den Mittelpunkt stellt. Für Patienten mit fortgeschrittenen Erkrankungen ist dieser Ansatz besonders wichtig. Die Belastung durch körperliche Beschwerden und besonders auch das Leiden in der Sterbephase können gemindert werden, wenn kommunikative und spirituelle Dimensionen des Leidens frühzeitig berücksichtigt werden (vgl. Müller-Busch 2004).
2.2 Interdisziplinäre Aufgaben und multiprofessionelle Orientierung von Palliative Care
In der im Jahre 2002 revidierten Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird darauf hingewiesen, dass Palliativmedizin/Palliative Care ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien ist. Dazu gehört nicht nur das Lindern von belastenden Symptomen und Leiden, sondern insbesondere auch die Prävention. Dies geschieht durch »frühzeitige Erkennung, die sorgfältige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen Problemen körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art« (World Health Organization 2002c). Durch eine ganzheitliche Herangehensweise soll Leiden umfassend gelindert werden, um Patienten und ihren Angehörigen bei der Krankheitsbewältigung zu helfen und deren Lebensqualität zu verbessern. Palliativmedizin bejaht das Leben und sieht im Sterben einen natürlichen Prozess. Das Leben soll nicht künstlich verlängert und der Sterbeprozess nicht beschleunigt werden. Palliativversorgung soll interdisziplinär und multiprofessionell erfolgen, so heißt es in der Präambel der Satzung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP 2008). Wenn man sich vergegenwärtigt, dass von jedem Sterbefall im Durchschnitt vier bis fünf Angehörige betroffen sind, die in der Trauer Unterstützung und in manchen Situationen durchaus auch professionelle Begleitung benötigen, dann zeigt das, welche Dimension das Sterben auch für die sozialen Berufe hat.
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