1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 Einer der wichtigsten Gründe für die breite Entwicklung palliativer Konzepte für schwerstkranke und sterbende Patienten war sicherlich die Tatsache, dass das Thema Sterben und Tod sowie Leidenslinderung am Lebensende in der modernen Medizin lange nahezu ausgeklammert wurde, indem die unbeabsichtigten Nebenfolgen des Fortschritts (Schmerzen, Hilfsbedürftigkeit, existenzielle Not und Pflege des sterbenskranken Menschen) nicht beachtet wurden. Hier kommt erneut die »Schwester« des Palliativgedankens ins Spiel: Auch im Selbstverständnis der Hospizbewegung ist die Begleitung des Sterbens nicht nur eine praktizierte Idee und ein karitatives Engagement, sondern es geht vor allem auch darum, das Sterben als zum Leben gehörig wieder in das gesellschaftliche Leben und soziale Miteinander zu integrieren, indem der Sterbende auch in seiner Bedeutung für den anderen in den Mittelpunkt gestellt wird: Du zählst, weil du du bist. Und du wirst bis zum letzten Augenblick deines Lebens eine Bedeutung haben. Palliative Care umschreibt dagegen – wie schon angedeutet – mehr die professionellen Aufgaben, die sich durch die technischen Möglichkeiten der Medizin zur Lebensverlängerung und durch die institutionellen Rahmenbedingungen ergeben haben. Cicely Saunders hat daran gearbeitet, diese beiden Aspekte zusammenzuführen (vgl. Clark 2002).
Inzwischen haben sich Hospizbewegung und Palliative Care weltweit neben- und miteinander etabliert. Bis 1985 leitete Cicely Saunders das St. Christopher Hospice, aber auch in ihrem Ruhestand engagierte sie sich leidenschaftlich für die Hospizidee und eine menschenwürdige Betreuung Sterbender, welche sie als die einzig angemessene Antwort auf die auch in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts auftauchenden Bewegungen für eine Legalisierung der Euthanasie und der Beihilfe zum Suizid ansah: »Sie sind bis zum letzten Augenblick Ihres Lebens wichtig, und wir werden alles tun, damit Sie nicht nur in Frieden sterben, sondern auch bis zuletzt leben können« (Burgheim 2005, S. 7). Cicely Saunders hat die Begleitung des Sterbenden als Lebensaufgabe angesehen. Sie ist wie Elisabeth Kübler-Ross, die sich vor allem für das Verstehen der unterschiedlichen Phasen des Sterbens verdient gemacht hat, eine der wichtigsten Persönlichkeiten, denen es zu verdanken ist, dass Sterben und Tod auch unter den Bedingungen der modernen Medizin und industriellen Entwicklung wieder mehr Beachtung finden. Sie starb am 14. Juli 2005 im Alter von 87 Jahren – liebevoll begleitet in dem von ihr gegründeten St. Christopher Hospice in London.
Clark D (2002) Cicely Saunders – founder of the hospice movement: selected letters 1959–1999. Oxford: Oxford University Press.
Kraska M, Müller-Busch HC (2017) Von »Cura palliativa« bis »Palliative Care«. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Müller-Busch HC (2012) Abschied braucht Zeit. Palliativmedizin und Ethik des Sterbens. Berlin: Suhrkamp.
2 Entwicklung von Palliative Care in den angelsächsischen und den deutschsprachigen Ländern
H. Christof Müller-Busch
Im Hinblick auf Aufgaben, Strukturen, Zielgruppen und qualitative Merkmale haben die Begriffe Palliative Care und Palliativmedizin in den letzten 30 Jahren eine Reihe von Transformationen erfahren, die zu unterschiedlichen Gewichtungen geführt haben, sodass bisher auch keine allgemein konsentierte Definition in der internationalen Literatur zu finden ist. Für den deutschsprachigen Versorgungskontext und damit auch für die Aufgaben der in der Palliativversorgung engagierten verschiedenen Berufsgruppen wurden im Jahre 2016 wichtige Begriffe zur Hospiz- und Palliativversorgung in einem Glossar der eutschen Gesellschaft für Pallitivmedizin (DGP) erläutert, das wesentlich auf einem von der European Association for Palliative Care (EAPC) herausgegebenen Weißbuch beruht (Radbruch und Payne 2011a, Radbruch und Payne 2011b, DGP 2016). In der modernen Palliativversorgung können zudem ein palliativer Ansatz sowie allgemeine und spezialisierte palliative Versorgungsformen unterschieden werden (Müller-Busch 2011, S. 7–14).
Zum Selbstverständnis von Palliative Care gehört eine personale Herangehensweise, die den kranken Menschen mit seinen biografischen Besonderheiten, gesunden Potenzialen und tragfähigen sozialen Bezügen in den Mittelpunkt stellt. Für Patienten mit fortgeschrittenen Erkrankungen ist dieser Ansatz besonders wichtig. Durch eine am bio-psycho-sozialen Modell orientierte Herangehensweise kann die Linderung von belastenden Beschwerden verbessert werden, wenn auch soziale, kommunikative und spirituelle Dimensionen berücksichtigt werden.
Die Umsetzung eines psychosozial und spirituell orientierten Palliative-Care-Konzepts benötigt in einem hohen Maße Strukturen, die fachliche Interdisziplinarität gleichberechtigt ermöglichen. Nur wenn Probleme aus verschiedenen Blickwinkeln gesehen und beurteilt werden, ergeben sich transdisziplinäre Lösungsansätze und Orientierungen, die über das eigene Blickfeld hinausreichen. Insofern ist der Teamgedanke, in dem Ärztinnen und Ärzte, Pflegende, Theologinnen und Theologen, Psychologinnen und Psychologen, Therapeutinnen und Therapeuten, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Menschen aus sozialen und künstlerischen Bereichen, Betroffene, Angehörige und Ehrenamtliche miteinander um das Wohl des Betroffenen ringen, eine der tragenden Säulen von Palliative Care, die multiprofessionelle Identität und die Bereitschaft zur Teamarbeit beinhaltet.
2.1 Formen und Aufgaben von Palliative Care im europäischen Vergleich
Seit Beginn der 1990er Jahre ist in den industrialisierten Ländern eine dynamische Entwicklung von palliativmedizinischen Versorgungsangeboten festzustellen. Führend waren vor allem Großbritannien, Kanada und die skandinavischen Länder. Wie in allen Ländern lassen sich auch in Deutschland eine Pionierphase (ca. 1971–1993), eine Differenzierungsphase (ca. 1994–2005) und eine Stabilisierungsbzw. Integrationsphase (seit 2005) voneinander unterscheiden. Besonders in den letzten Jahren hat sich Palliative Care in Deutschland sehr dynamisch entwickelt und ist mittlerweile in Gesellschaft und Politik weithin anerkannt. 2018 gab es in Deutschland für palliativ erkrankte Menschen rund 5.000 Betten in 235 stationären Hospizen und 304 Palliativstationen. Für die durch spezialisierte Teams durchgeführte ambulante Palliativersorgung wurden mehr als 300 Verträge abgeschlossen. Mehr als 11.000 Ärzte haben die Zusatzqualifikation Palliative Care erworben. 100.000 Freiwillige unterstützen die Hospizarbeit in mehr als 1.400 ambulanten Hospizdiensten. Palliative Care ist integraler Bestandteil des Lehrplans für Medizinstudierende mit Lehrstühlen für Palliativmedizin an 11 der 36 Universitäten. Im europäischen Vergleich nahm Deutschland 2017 im Hinblick auf die Entwicklung palliativer Versorgungsstrukturen einen mittleren Rang ein – auch wenn es hier mit über 900 Angeboten zur spezialisierten Palliativversorgung europaweit die mesten Angebote gibt. Europaweit führend ist Österreich, gefolgt von Irland und Luxemburg. Empfohlen werden zwei multiprofessionelle Angebote zur spezialisierten Palliativversorgung für 100.000 Einwohner (Arias-Casais et al. 2019, S. 43–50). Im Hinblick auf Vitalität, worunter die gesellschaftliche Bedeutung der Palliativmedizin und des palliativen Ansatzes in der Gesundheitsversorgung verstanden wird, wie sie sich zum Beispiel durch gesetzliche Regelungen, in öffentlichen Debatten zu sozialen Fragen, in der Fort- und Weiterbildung, in Wissenschaft und Forschung und anderen gesellschaftliche Aktivitäten niederschlägt, steht Deutschland gemeinsam mit Großbritannien weit vorne. So ist in Dutschland die Palliativmedizin seit 2009 an den Universitäten Pflicht-, Lehr- und Prüfungsfach. Im Jahr 2010 wurde zudem die »Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland« verabschiedet und deren Handlungsempfehlungen wurden in eine nationale Strategie überführt. Deutschland ist eines von acht Ländern Europas mit Gesetzen zur Palliativversorgung. Seit 2015 gbt es das Hospiz- und Palliativgesetz, in dem der Rechtsanspruch auf Palliativversorgung geregelt ist. Im gleichen Jahr wurde die »S3- Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung« vorgestellt, die im Jahre 2019 durch weitere Themen ergänzt wurde (Centeno et al. 2007, S. 463–471; Arias-Casais et al. 2019). Eine im Jahre 2010 erschienene Untersuchung zur Sterbequalität in 40 Ländern ergab, dass Deutschland im »Quality of Death Index«, der aus verschiedenen quantitativen und qualitativen Indikatoren gebildet wurde, hinter Großbritannien, Australien, Neuseeland, Irland, Belgien, Österreich und den Niederlanden ebenfalls den 8. Rang einnimmt (vgl. Lien Foundation 2010).
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