Die Stunde der Aussteigeroder Gottsuche unter der Wüstensonne
Gegen Ende des 3. Jahrhunderts kam es in der Christenheit zu einer Gegenbewegung. Damals wurden in Spanien und Gallien, in Italien auch und selbst im entfernten Byzanz immer mehr Jesusgläubige der dekadenten Zivilisation mit ihrem überzüchteten Lebensstil überdrüssig und zogen sich in die Wüste zurück, um zu Gott und zu sich selbst zu finden. Stille, Gebet, Handarbeit und Fasten, insbesondere aber die frei gewählte Einsamkeit schienen ihnen der geeignete Weg zur Erreichung dieses Ziels.
Als einer der ersten Hauptvertreter dieser neuen Geistesrichtung gilt der Einsiedler Antonios. Der wird um 251 im mittelägyptischen Kome (heute Qiman-al-Arûs) als Sohn wohlhabender christlicher Fellachen geboren. Als er ungefähr zwanzig Jahre alt ist, sterben seine Eltern. Entsprechend dem römischen Recht liegt es jetzt an Antonios, für seine jüngere Schwester zu sorgen. In dieser Zeit hört er in einer Predigt einen Ausspruch Jesu: »Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach« (Matthäus 19,21). Dieses eine Wort verdirbt ihm die ganze Freude an seinem elterlichen Erbe. Antonios redet mit seiner Schwester – oder vielmehr er überredet sie, in eines der damals bestehenden Häuser für ›gottgeweihte Jungfrauen‹ einzutreten, womit eine Gemeinschaft junger Frauen gemeint ist, welche zusammenleben, sei es, um Gott besser zu dienen, sei es, um sich zu emanzipieren und dem drohenden ehelichen Joch zu entgehen; für manche von ihnen mochte beides zutreffen. Seine Güter verschenkt Antonios an die Nachbarn. Dann setzt er sich ab in die Wüste, wo er in einer ausgeraubten Grabkammer haust. Ein Freund versorgt ihn gelegentlich mit getrocknetem Fladenbrot, das sich bekanntlich über Monate hin hält. So lange aber kann der Zulieferer seinen Mund nicht halten. Bald spricht sich im Dorf herum, wo Antonios steckt.
Gottsucher denken an Gott und befassen sich nicht mit Psychologie. Dass Antonios von Letzterer nichts versteht, wird ihm zum Verhängnis. Er bedenkt nicht, dass man sich nur zu verstecken braucht, damit alle einen suchen. Und dass viele einen Versteckten, sobald man ihn gefunden hat, aufsuchen. Angesichts des Andrangs der Menge zieht Antonios weiter weg, in die Nähe von Pispir, wo er sich in einem verlassenen Kastell verbirgt. Neugierige brauchen lediglich den von seinen Freunden hinterlassenen Fladenbrotspuren zu folgen, um ihn aufzuspüren. Wer ein Erbe ausschlägt, um sich als Hungerkünstler zu versuchen, ist allemal eine gesellschaftliche Attraktion. Insbesondere wenn sich auch noch das Gerücht verbreitet, er kämpfe mit Dämonen und habe Visionen. Und der Teufel mache sich in Gestalt hübscher Knaben und schönbusiger Frauen an ihn heran, um ihn zur Unzucht zu verleiten. Weiteren Gerüchten zufolge vermag der seltsame Gottsucher sogar Kranke zu heilen. Und, was schon ans Unerhörte grenzt: Gott, heißt es, habe höchstpersönlich zu ihm gesprochen!
Antonios, der allen Sensationen entfliehen wollte, wird selbst zur Sensation. Das hält er nicht aus. Er entzieht sich der Menge durch Flucht. Seine nächste Behausung richtet er in der Wüste ein, auf dem Berg Kolzim. Eines hat der Außenseiter inzwischen begriffen: Je mehr ein Mensch sich in der Menge sonnt und zu ihr redet, desto größer ist die Gefahr, dass er sich aufspielt. Wer im Mittelpunkt steht, denkt an die Wirkung, die er erzielen möchte, sucht Zustimmung – und ist gar nicht mehr so richtig bei sich. Auf dem Berg Kolzim ist Antonios ganz bei sich. Hier findet er seine innere Ruhe. Jetzt erfährt er auch, was das ist: Gelassenheit. Sein Biograf, der Bischof Athanasios, schreibt, dass Antonios sich fortan »an der Schau der göttlichen Dinge ergötzte«. Ja: ergötzte ! Das kann später ein dahergelaufener Spötter nicht begreifen. Wie Antonios diese Einsamkeit überhaupt aushalte, will dieser wissen, zumal er sich als Analphabet die Zeit nicht einmal mit der Lektüre eines Buches zu vertreiben vermöge (tatsächlich konnte er, wie sein Biograf kleinlaut gesteht, nicht einmal lesen). Dabei liegt Antonios nichts ferner, als die Zeit zu vertreiben! Den Spötter bringt er zum Schweigen, indem er ihm sagt, wie er sie nutzt: »Mein Buch ist die Schöpfung. Wenn ich Gottes Wort lesen will, brauche ich nur hineinzuschauen.«
Der am Berg Kolzim Untergetauchte wird bald erneut entdeckt. Wie vormals in Kome und später in Pispir kommen die Leute in Scharen. Wollte Antonios weiter nach Osten fliehen, müsste er sich übers Rote Meer absetzen, das vor ihm in Sichtweite liegt. Stattdessen entscheidet er sich für einen Kompromiss. Er bleibt in seiner Einsiedelei. Unten am Berg, wo heute das Antoniuskloster steht, leben einige seiner Schüler in Hütten. Die versperren allen, die zu ihm wollen, den steilen Pfad. Aber bloß während eines halben Jahres. Die andere Jahreshälfte verbringt Antonios wiederum in Pispir. Dort erzählt er den Pilgerscharen, was er die Monate zuvor im Buch Gottes gelesen hat. Ob Antonios, wie Athanasios in der erwähnten Lebensbeschreibung berichtet, wiederholt auch Reisen nach Alexandreia unternahm, um die dort verfolgten Christen im Glauben zu stärken, ist nicht nachgewiesen.
Antonios starb im biblischen Alter von 105 Jahren. Schon zu seinen Lebzeiten haben Unzählige von ihm gelernt, dass sie vor sich selbst davonlaufen, wenn sie sich rund um die Uhr in Betriebsamkeit flüchten.
Obwohl zurückgezogen lebend, mischte sich der Eremit Antonios dennoch ins Tagesgeschehen ein. Tatsächlich werden dem laut Athanasios ungebildeten Wüstenvater fast dreißig Briefe zugeschrieben, von denen vermutlich bloß acht echt sind. Aber selbst von diesen Letzteren entstammt kein einziger seiner Feder, weil der des Schreibens Unkundige sich genötigt sah, seine Ermahnungen zu diktieren. Die ihm zugeschriebene Ordensregel wurde vermutlich von seinem Schülerkreis zusammengestellt. Hauptthema dieser Regel ist die Abkehr des Mönchs von der Welt und die Abtötung weltlicher Begierden. Ob Antonios mit Kaiser Konstantin und dessen Söhnen im Schriftwechsel stand, wie sein Biograf behauptet, scheint mehr als fraglich.
Antonios gilt als Begründer des christlichen Mönchtums.Das trifft so nicht zu. Wohl förderte er die Kontakte zwischen Anachoreten, die einzeln oder in kleinen Gruppen lebten. Klosterähnliche Einrichtungen aber verdanken ihre Entstehung dem Eremiten und Altvater Pachomios, von dem noch die Rede sein wird.
Der Gedanke an ein gemeinschaftliches Leben war Antonios völlig fremd. Ihm und den übrigen Einsiedlern ging es um die individuelle Gottbegegnung und um die persönliche Heiligung.
Wie bereits berichtet, starb Antonios hochbetagt. Noch effektiver als er soll sein Eremitenkollege Paulos von Theben die Jahre gemehrt haben, der gleichfalls abhold allen irdischen Freuden der Welt den Rücken kehrte und eine karge Wüstenexistenz den städtischen Lustbarkeiten vorzog. Oder sagen wir besser: vorgezogen haben soll.
Die wundersamen Nachrichten über sein Leben verdanken wir dem heiligen Hieronymus (347–420), der eine Vita Pauliprimi eremitae , eine Lebensbeschreibung dieses allerersten Eremiten , verfasste. Darin berichtet der berühmte Theologe und verdienstvolle Bibelübersetzer (er übertrug die Bibel ins Lateinische) derart ungewöhnliche Dinge, dass nicht nur die Geschichtsforschenden, sondern auch die gewöhnlich Sterblichen sich fragen, ob Paulos der Große (wie er auch genannt wird) seine Existenz nicht der Fantasie des Verfassers verdanke. Manche Fachleute gehen heute davon aus, dass Hieronymus sich von seinem schriftstellerischen Ehrgeiz dazu verleiten ließ, die Vita Antonii des Athanasios mit seiner legendären Lebensbeschreibung des Paulos zu überflügeln.
Angeblich wurde Paulos im Jahr 228 als Sohn vermögender Eltern in Ägypten geboren. Nach deren Tod und wegen Erbstreitigkeiten mit seinem Bruder zog der der damaligen Gesellschaft Überdrüssige während der Christenverfolgungen unter Kaiser Decius (249–251) als Einsiedler und Asket in die ägyptische Wüste. Im Gegensatz zu Antonios, in dessen Umfeld sich zahlreiche Eremiten niedergelassen hatten, soll Paulos über Jahrzehnte hin völlig allein gelebt haben, versorgt nur von einer Wasserquelle, einer Dattelpalme und einem Raben, der ihm täglich ein halbes Brot brachte. Als er trotz Vitaminmangels 113 Jahre alt geworden war, hatte der damals schon 90-jährige Antonios ein Traumgesicht, in welchem ihm die Existenz des älteren Einsiedlers kundgetan ward. Gleichzeitig erhielt er den Auftrag, ihn aufzusuchen. Was die beiden miteinander beredeten, entnimmt die Legende fast wörtlich der von Hieronymus verfassten Lebensbeschreibung. Paulos, der über die Jahrzehnte hin keinerlei Kontakt zur übrigen Welt hatte, befragt seinen Besucher nach den dortigen Zuständen:
Читать дальше