Mit dieser Regel hat Benedikt nichts grundlegend Neues geschaffen. Vielmehr hat er aus früheren Quellen geschöpft und diese für die Gemeinschaft von Montecassino adaptiert. Dabei beruft er sich ausdrücklich auf fremde und eigene Erfahrungen.
Ziel allen klösterlichen Tuns ist nach Benedikt die Verherrlichung Gottes ( ut in omnibus glorificetur Deus ). Hauptaufgabe ist die Pflege der Liturgie, verbunden mit Gebet und Meditation. Nicht minder gewichtet wird die körperliche Arbeit. Aus diesen Forderungen wurde später der benediktinische Wahlspruch »ora et labora – bete und arbeite« abgeleitet, der sich in der Regel selber nicht findet. Die klösterliche Gemeinschaft betrachtet Benedikt als Familie. Das Gemeinschaftsideal kommt dadurch zum Ausdruck, dass den Klosterleuten jeglicher Besitz untersagt ist. Untereinander sind sie wie Brüder oder Schwestern – sie leben ehelos. Die Mahlzeiten werden gemeinsam eingenommen. Soziale Unterschiede sind zu ignorieren. Damit ist der Unterschied zwischen Sklaven und Freien, aber auch zwischen ›zivilisierten‹ Römern und ›barbarischen‹ Germanen aufgehoben. An der Spitze dieser ›Familie‹ steht der Abt bzw. die Äbtissin, denen eine fast absolute Macht zugestanden wird. Gleichzeitig fällt auf, dass an keine Adresse mehr Warnungen ergehen als an die des Abtes bzw. der Äbtissin. Benedikt rechnet also sehr realistisch damit, dass die Oberen vieles falsch machen können. Allerdings ist damit das strukturelle Problem nicht gelöst – was geschieht, wenn der Abt oder die Äbtissin diese Mahnungen nicht ernst nehmen? In jedem Fall schulden die Mönche und Nonnen den Oberen uneingeschränkten Gehorsam. Wichtig ist die stabilitasloci , die Ortsgebundenheit. Diese Forderung schließt die Bereitschaft ein, für immer in dem Kloster zu bleiben, in welches man eingetreten ist. Damit soll dem in der Regel gleich zu Beginn beklagten Umherschweifen der Mönche Einhalt geboten werden. Bedenken äußert Benedikt gegenüber einer übertriebenen Askese, die leicht zum Stolz und zur Verachtung anderer verleitet. Für ihn ist jedes Kloster ein Haus der Hoffnung, an dem die Mönche und Nonnen lebenslang weiterbauen.
Wenn hier entsprechend der inzwischen üblichen Terminologie gelegentlich vom Benediktinerorden die Rede ist, trifft dieser Begriff nur bedingt zu. Eigentlich müssten wir vom Benediktinertum sprechen. Denn genauso wenig wie Augustinus dachte Benedikt daran, einen Orden zu gründen. Seine Regel hat er lediglich für ›seine‹ Mönche im Kloster Montecassino konzipiert. Schon bald jedoch orientierten sich immer mehr Mönchs- und Monialengemeinschaften an der Benediktsregel – dies vor allem im fränkischen Merowingerreich, in England und in Gallien, wo sie in Verbindung mit anderen Mönchsregeln rezipiert wurde. Auf diese Weise entstanden zahlreiche sogenannte Mischregeln . Als dann im Fränkischen Reich im 8. Jahrhundert immer mehr Mönchs- und Nonnenklöster gegründet wurden, drangen vor allem die karolingischen Herrscher auf eine Vereinheitlichung des klösterlichen Lebens – und auf dessen Reform. Im Lauf der Jahre und Jahrzehnte nämlich war die Fackel der Begeisterung für die klösterliche Lebensweise gelegentlich zu einem Armenseelenlicht verkommen. Laxheit breitete sich aus und statt auf geistliche Zucht waren manche Mönche und Nonnen eher auf weltliche Lüste bedacht. Immer wieder lesen wir in zeitgenössischen Klosterchroniken, dass auch Klosterleute gegen homo- und heterosexuelle Beziehungen nicht immun waren; dass Nonnen Kinder zur Welt brachten, deren Väter längst nicht in jedem Fall ein Mönchsdasein fristeten, oder dass die Gaumenfreuden oft höher gewichtet wurden als die geltenden Fastenregeln.
Beim Bekämpfen solcher Missstände wurden die weltlichen Herrscher tatkräftig unterstützt von dem Abt Benedikt von Aniane (in Südfrankreich; um 750–821), der seine Jugend am Hof Karls des Großen verbracht hatte. Sein Reformprogramm war knapp und klar: Una regula – una consuetudo ( eine Regel – ein Brauchtum). Dieses Postulat vermochte er mithilfe Kaiser Ludwigs des Frommen, des Sohnes und Nachfolgers Karls des Großen durchzusetzen, so dass vorerst nur noch eine einzige Klosterregel, nämlich jene des heiligen Benedikt von Nursia Geltung hatte. Diese allerdings wurde entsprechend den inzwischen veränderten Zeitläuften an die neuen Verhältnisse adaptiert und unter dem Titel Capitulare monasticum ( Monastisches Kapitelbuch ) ediert – was mit sich brachte, dass nicht Benedikt von Nursia, sondern mit größerem Recht Benedikt von Aniane als eigentlicher Begründer des Benediktinertums gelten kann. Dies umso mehr, als das benediktinische Mönchstum mit dieser Reform gleichzeitig drei Entscheidungen von höchster Tragweite traf, von denen in der ursprünglichen Benediktregel kaum Spuren zu finden sind, die aber bis heute nachwirken.
Die erste betrifft die Schaffung von Großklöstern , welche nunmehr als ideal galten. Die zweite Grundentscheidung bestand darin, dass diese Niederlassungen gleichzeitig Kulturklöster sein sollten. Das setzt natürlich materielle und personelle Ressourcen voraus, wie nur Großklöster sie bieten können. Ein dritter Schwerpunkt der anianischen Reform betrifft die Liturgie der Mönchsgemeinschaft , welche in der Abteikirche öffentlich zugänglich sein muss.
Da die einzelnen Konvente nach wie vor voneinander unabhängig waren, kann von einem eigentlichen (Benediktiner-) Orden nur bedingt die Rede sein. Und das ist bis heute so geblieben. Tatsächlich (und rechtlich gesehen) handelt es sich beim ›Benediktinerorden‹ um eine Benediktinische Konföderation , welche aus weltweit rund 20 weitgehend selbstständigen Vereinigungen von benediktinischen Klöstern besteht. Diese Konföderation wurde erst durch Papst Leo XIII. im Jahr 1893 ins Leben gerufen. Geistiger Mittelpunkt ist das Kolleg Sant’Anselmo in Rom, wo der Abtprimas seinen Sitz hat. Dessen Verfügungsgewalt aber ist, im Gegensatz etwa zu jener von Vorstehern anderer Orden, ziemlich eingeschränkt.
Ohne die zahlreichen Klostergründungen in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends – und dies ist nur eines der Verdienste der mittelalterlichen Mönche – wäre die antike Kultur und damit das angesammelte Wissen von Jahrhunderten zum größten Teil verloren gegangen. Dass dies nicht zutraf, verdanken wir unter anderem einem Gelehrten, der ein Werk verfasste, ohne das unsere Wikipedia kaum denkbar wäre.
Isidor von Sevillaoder Der erste »Brockhaus«
Bis zu Beginn des 5. Jahrhunderts war die Iberische Halbinsel in mehrere blühende römische Provinzen aufgeteilt. Danach ging es mit Hispania rasant bergab. Vandalen, Sueben und Alanen eroberten weite Landesteile – Stichwort Völkerwanderung . Und die beinhaltet nicht nur Totschlag und Plünderungen und Brandschatzung, sondern, längerfristig, auch den Untergang des weströmischen Reiches.
Alles liegt in Trümmern. Wer hundert Rinder besaß, hat jetzt nicht mehr als zwei. Wer hoch zu Pferd geritten ist, muss nun zu Fuß gehen. Felder und Städte haben ihr Gesicht verändert. Das Menschengeschlecht kommt durch Eisen, Feuer, Hunger und alle Arten von Unglücksfällen um. Der Friede ist von der Erde geflohen, das Ende der Zeiten ist angebrochen.
Was den Schluss seiner Darstellung betrifft, hat sich der unbekannte spanische Autor, der diese Zeilen gegen Ende des ausgehenden 5. Jahrhunderts zu Pergament brachte, geirrt. Angebrochen war nicht das Ende der Zeiten, sondern das Ende eines Zeitalters. Und der Beginn einer neuen Ära, die wir heute als Mittelalter bezeichnen.
Aber der Bruch war keineswegs total.
Wohl haben die Eroberungen der ›Barbaren‹ dem fast die ganze damalige Welt umfassenden Römischen Reich politisch ein Ende bereitet. Was uns keineswegs ermächtigt, von einem ›Untergang der antiken Welt‹ zu sprechen. Tatsächlich lebte deren Erbe weiter fort. Gepflegt wurde es an den Kloster- und Domschulen, an denen seit dem 6. Jahrhundert Mönche und Nonnen unterrichteten, sowie im 11. Jahrhundert an der berühmten Rechtsschule von Bologna und an der nicht minder bedeutenden Medizinschule von Salerno. Eine zentrale Rolle für die Vermittlung antiken Gedankenguts spielten auch die Universitäten, die im 12. und im frühen 13. Jahrhundert wie Pilze aus dem Boden schossen (Paris zwischen 1150 und 1170, Oxford 1167, Cambridge 1209, Salamanca 1218, Padua 1222). Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang die mächtigen Klöster der ersten Jahrtausendwende, die sich um die Weitergabe der kulturellen Leistungen der Griechen und Römer immense Verdienste erwarben. Und ganz nebenher (und glücklicherweise) auch das antike Wissen um den Weinbau in unsere Zeit hinüberretteten.
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