Die in vielen Feuilletons vorgenommene Gleichsetzung von Postmoderne mit Beliebigkeit ist für Welsch einer der entscheidenden Gründe, weshalb die Bezeichnung „postmodern“ von fast allen Philosophen vermieden wurde. Postmoderne, d. h. radikal-heterogene Pluralität lebt dagegen von der Wertschätzung der Differenz. Um diese Pluralität erfahrbar zu machen, braucht es Kriterien, anhand derer Unterschiede festgemacht und bewertet werden können. Der fundamentale Unterschied zwischen Pluralität und Uniformierung liegt jedoch darin, dass uniformes Denken Abweichungen per definitionem verurteilt, indem es andere Modelle nach dem bewertet, worin sie sich von dem Eigenen, universal Gültigen abheben. Plurales Denken hingegen muss andere Modelle ebenso bewerten, braucht sie jedoch nicht zwingend von vorneherein als ausschließlich defizitär zu definieren. Es kann ihnen in einem transversal geführten theologischen Diskurs sogar fremdprophetische Anteile abgewinnen – wie sich im Weiteren zeigen wird. [Vgl. zu dieser Postmoderne-Option den fundierten Aufsatz von: Becker, P. / Diewald, U ., Relativismus, Postmoderne und Wahrheitsanspruch, in: StZ 134 (2009), 673-684.]
Ergänzend hierzu ist anzumerken: Pluralität lebt insgesamt ebenfalls von Verbindlichkeiten, welche allerdings völlig anderen Regeln folgen als einschlägig (beispielsweise kirchlich) gewohnt. Verbindlichkeiten sind postmodern vielmehr radikal pluralisiert sowie transformiert und nicht aufgelöst: Eine ungeordnete bzw. unvereinbare Pluralisierung und lebenspraktische Fragmentierung wäre letztlich existenzbedrohlich. Fragmentierungen müssen hingegen durch das Individuum selber gestaltet, verantwortet, ausgehalten und überbrückt werden. Diese transformierte Weise dessen, wie etwas postmodern dann verbindlich ist, wird beispielhaft unten an der postmodernen Volkskirchlichkeit deutlich werden (vgl. besonders I 4), genauso wie an der Figur des Städters (vgl. III 3.2.1.2).
12Denn es ist mit Stefan Gärtner für die gegenwärtige Pastoral davon auszugehen, dass „[…] das geistesgeschichtliche Problembewusstsein, das mit dem Begriff Postmoderne angezeigt ist, sich auch auf sozialem Niveau ausmünzt. Bewusstseinsprozesse korrelieren also mit sozialer Praxis und umgekehrt.“ [ Gärtner, S ., ‚Postmoderne‘ Pastoral? Exemplarische Reflexionen zu einem Kasus, in: LS 60 (2009), 151-155, 152.]
13Vgl. Welsch, W ., Unsere postmoderne Moderne.
14Ebd., 66.
15Unter anderem daher schlägt in der jüngeren praktisch-theologischen Diskussion Stefan Gärtner vor, den Postmoderne-Begriff für die philosophische Diskussion zu reservieren, für den sozialwissenschaftlichen Diskurs hingegen eher den Begriff der „Spätmoderne“ vorzuziehen. Vgl. Gärtner, S ., Fremdheit und Differenz in der postmodernen Theologie. Die Replik von Stefan Gärtner auf Jürgen Bründl, in: LS 60 (2009), 158-159, 158. Vgl. ausführlicher zu dieser Präferenz die Habilitationsschrift Gärtners: Ders ., Zeit, Macht und Sprache, Pastoraltheologische Studien zu Grunddimensionen der Seelsorge, Freiburg/Brsg. 2009. Diese Diskussion ist hier nicht aufzunehmen geschweige denn hinreichend fortzuführen. Generell lässt sich jedoch anzweifeln, dass das Präfix „spät“ rein sprachlich eine neutrale bzw. positive Konnotation haben kann.
16So Edmund Husserl, zitiert bei Welsch, W ., Unsere postmoderne Moderne, 71.
17Vgl. ebd., 72.
18Vgl. ebd., 75.
19Vgl. ebd., 78.
20Vgl. ebd., 79.
21Vgl. Lyotard, J.-F ., Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz 1986.
Daher kann wissenschaftstheoretisch der Übergang zur Postmoderne als Paradigmenwechsel eigener Art beschrieben werden. Vgl. hierzu: Widl, M ., Pastorale Weltentheologie. Transversal entwickelt im Diskurs mit der Sozialpastoral, Stuttgart 2000, 84-103.
22 Welsch , Unsere postmoderne Moderne, 82.
23Ebd., 83.
24Ebd., 84.
25Vgl. Welsch, W ., Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt am Main 1996, 559. Vgl. zu diesem Unterabschnitt insgesamt ebd., 541-610.
26Vgl. Kuhn, T ., Neue Überlegungen zum Begriff des Paradigmas, in: Ders ., Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt am Main 1977, 389-420.
27Vgl. Welsch , Vernunft, 545.
28Ebd., 546.
29Ebd., 547f.
30Vgl. ebd., 555.
31Vgl. ebd., 553.
32Soziologisch übersetzt findet sich der Paradigmenbegriff und der Paradigmenpluralismus durch Maria Widl für praktisch-theologische Zusammenhänge: „Verschiedene Bereiche der Gesellschaft entwickeln ihre ganz eigene Logik, die von außen meist unverständlich bleibt: die Jugend, die Wirtschaft, die Religion, die Wissenschaften, die Politik. Diese verschiedenen Logiken sind als Paradigmen ausgebildet, also als in sich geschlossene, sich selbst vollständig genügende Verstehens- und Lebenswelten.“ [ Widl, M ., Transversalität. Eine inhaltliche Brücke zwischen Christentum und säkularer Welt gestalten, in: Dies., u. a ., Folge dem Stern! Missionarische Projekte am Weihnachtsmarkt, Würzburg 2009, 40-53, 43f.]
33Vgl. Welsch , Unsere postmoderne Moderne, 306.
34Ebd.
35 Widl , Pastorale Weltentheologie, 126. Vgl. dazu umfassend: Welsch , Vernunft, 613-949.
36Vgl. Welsch , Unsere postmoderne Moderne, 307.
37Ebd., 308f.
38Ebd., 310.
39Ebd., 315.
40Vgl. Widl , Pastorale Weltentheologie, 127. Vgl. auch Englert, R ., Religiöse Erwachsenenbildung. Situation – Probleme – Handlungsorientierung, Stuttgart 1992.
41 Widl , Pastorale Weltentheologie, 154f.
Vgl. auch die Herleitung und Verbindung der transversalen Vernunft mit klassischen theologischen Methoden, in: Dies ., Transversalität, 47-53. Hier wird Transversalität praktisch-theologisch in den fünf Schritten von Apologetik, Korrelation, Fremdprophetie, Prophetie und Katholizität rezipiert.
42Am Rande bemerkt: In der bereits angeführten Replik Stefan Gärtners auf Jürgen Bründl in LS 60 (2009) empfiehlt Gärtner die Transversalität auch als Methodik für den innertheologischen Dialog: „Ein Sprachspiel lässt sich in der Postmoderne nicht mehr ohne weiteres in ein anderes überführen. Es entpuppt sich permanent als partikulär und kontingent. Es käme darauf an, mit transversal geschultem Verstand ( Welsch ) die Grenzen des eigenen Diskurses aufzusuchen und nach möglichen Übergängen zum fremden Anderen zu fragen. Dies gilt überraschender Weise auch für den innertheologischen Dialog.“ [ Gärtner, S ., Fremdheit und Differenz in der postmodernen Theologie, 159.]
43 Zulehner, P. M ., Pastoraltheologie. Düsseldorf 1989, Fundamentalpastoral, Bd. I, 34.
44 Haslinger, H. / Bundschuh-Schramm, Ch., u.a ., Ouvertüre: Zu Selbstverständnis und Konzept dieser Praktischen Theologie, in: Haslinger, H . (Hg.), Praktische Theologie. Grundlegungen, Mainz 1999, Bd. I, 19-36, 31f. Haslinger verschweigt nicht, dass diese Methode beispielsweise seitens der feministischen Theologie angefragt wird. Deren Einwände versuchen eine konsistentere Formulierung der praktisch-theologischen Methodologie, indem sie eine Weiterentwicklung des Dreischritts fordern. Sie dürften in diesem Sinne also als Verbesserungsoptionen und nicht als Negation dieser in den unterschiedlichen praktisch-theologischen Schulen gemeinhin akzeptierten Methodik verstanden werden. Vgl. ebd., 32f.
45Vgl. Zulehner , Pastoraltheologie, 34-38.
46Vgl. ebd., 36.
47Vgl. ebd.
48Vgl. ebd., 35.
49Ebd.
50Vorwegnehmend sei bereits hier gesagt, dass sicherlich die Konzilszeit nicht insgesamt als Paradigmenwechsel zu neuzeitlichen Idealen zu verstehen ist, wiewohl die Gemeindeidee als ‚Kind‘ dieser Zeit sehr deutlich auf solcherlei Ideen zurückzuführen ist (vgl. II 1). Joseph Ratzinger hat als Papst Benedikt XVI. in diesem Kontext die Unterscheidung zwischen einer Konzilshermeneutik der Reform und einer Hermeneutik der Diskontinuität eingeführt. Letztere entspricht dabei den neuzeitli-chen Ideen eines radikalen Neuanfangs wie der Universalität solchen Denkens. Vgl. hierzu: ANSPRACHE VON BENEDIKT XVI. AN DAS KARDINALSKOLLEGIUM UND DIE MITGLIEDER DER RÖMISCHEN KURIE BEIM WEIHNACHTSEMPFANG, von Donnerstag, dem 22. Dezember 2005.
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