1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Höhn beschreibt hier – ohne es explizit so zu nennen – Grunddaten eines transversalen Diskurses, wie er dieser Arbeit inhaltlich und methodisch zugrundeliegt. Dieser Ansatz findet sich im weiteren Verlauf dieser Einleitung genauerhin hergeleitet. Zuvor soll allerdings die Fragestellung der vorliegenden Studie – bereits transversal, also aus zweifacher Perspektive – vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen wie folgt formuliert sein:
Hat der Großteil des Volkes Gottes, welcher sich nicht kontinuierlich in gemeindekirchliche Vollzüge einbindet, eine generelle Botschaft für gegenwärtige pastorale Neuorientierungen? Genauso umgekehrt: Welche theoretischen wie praktischen Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit eine gegenwartsorientierte Pastoral diesen Menschen etwas zu sagen bzw. evangelisierend anzubieten hat?
Denn – so ist dem Pastoraltheologen Rainer Bucher auf ganzer Linie zuzustimmen:
„Die Kirche braucht alle, die zu ihr gehören. Sie muss sie hören und respektieren. Sie muss ihnen Raum geben und Aufmerksamkeit. Sie braucht sie um ihres Lebens willen, das sie verkörpern, um ihres Glaubens willen, für den sie stehen, und um ihrer Liebe willen, zu der sie fähig sind. Die Kirche braucht sie, um zu entdecken, wo sie ist und was ihre Aufgabe als Kirche hier und heute ist. Sie braucht sie, um zu werden, was sie sein soll: Gottes Volk.“ 10
Zu diesen Entdeckungen und notwendigen Prozessen möchte diese Studie einen Beitrag leisten. Sie tritt dazu mit jenen ChristInnen in einen Diskurs, die im kirchlichen Leben nur selten zu Wort kommen – weil sie innerhalb des Gottesvolkes gemeindefremd leben und daher „das andere Volk Gottes“ bilden.
2. Definitionen und methodische Vorüberlegung
2.1 Die Postmoderne innerhalb der Moderne
Der Begriff der Postmoderne wird in verschiedenen Kontexten aufgegriffen und findet sich dort eher unspezifisch gebraucht. Konnotiert ist er zumeist mit den Stichworten Unübersichtlichkeit, Beliebigkeit oder mit dem vielzitierten „anything goes“. 11
Um derartige Begriffsdiffusionen zu vermeiden, soll daher von vorneherein klar beschrieben werden, in welchem Sinn der Begriff der Postmoderne im Rahmen dieser Studie Verwendung findet. Dabei ist es weder möglich noch nötig, seine philosophische Diskussion umfassend zu referieren bzw. weiterzuführen, noch das praktische, vielseitige Bedeutungsspektrum dieses Begriffes zu diskutieren. Ebenfalls muss eine theologische Aufarbeitung andernorts geleistet werden. Praktisch-theologisch relevant werden philosophische Begriffe wie die Postmoderne allerdings, wenn sie eine gesellschaftliche Realität beschreiben bzw. zu erklären helfen. 12
Der deutsche Postmoderne-Theoretiker Wolfgang Welsch bietet im Anschluss an den französischen Philosophen Jean-Francois Lyotard, der bereits 1979 den Begriff der Postmoderne in die Diskussion einführte, eine passende Einordnung. 13Dieser soll hier gefolgt werden.
Welsch definiert zunächst das Zueinander der verschiedenen Begriffe:
„[…] [D]ie Postmoderne setzt sich zwar entschieden von der Neuzeit, sehr viel weniger hingegen von der eigentlichen Moderne ab. Nach-neuzeitlich ist sie gewiß, nach-modern aber kaum, sondern eher radikal-modern. […] Es gilt, zwischen neuzeitlicher Moderne und radikaler Moderne zu unterscheiden. Die erstere setzt die Neuzeit fort, an die letztere knüpft die Postmoderne an.“ 14
Die Postmoderne ist also anders, als es der Begriff suggeriert, nicht eine Nachmoderne, sondern versteht sich als ausdrücklicher Teil der Moderne. 15Auch wenn dies in deutlicher Radikalisierung des Moderne-Ansatzes erfolgt.
Welsch macht im Folgenden anschaulich, in welchem Verhältnis die von ihm aufgegriffenen Begrifflichkeiten zueinander stehen. Dabei wird deren reflexe Wirkung auf gesellschaftliche Prozesse greifbar. Er beschreibt vier Konkretionsweisen der Moderne: Die Neuzeit , die neuzeitliche Moderne , die Moderne des 20. Jahrhunderts und die Postmoderne . Um seine Konzeption der postmodernen Moderne genauerhin zu verstehen, seien diese vier Formen in Gestalt kurzer Skizzen referiert.
Die Neuzeit beschreibt Welsch weniger mithilfe begriffsgeschichtlicher Einschnitte, als mit philosophischen Konzeptionen. Für ihn setzt die Neuzeit philosophisch dort ein, wo eine dezidierte Zäsur zu allem Vorausgegangenen gesehen und fortgeschrieben wird. Dies ist für Hegel evident mit Descartes gegeben: Für Hegel beginnt mit Descartes das Prinzip der Selbstgewissheit, ein Prinzip des von sich ausgehenden Denkens und damit eine Linie, die zielgerichtet zum hegelschen Idealismus führt. Aus heutiger Sicht beginnt zudem mit Descartes die exakte Wissenschaft, die mathesis universalis und damit die wissenschaftlich-technische Zivilisation. Insbesondere sind es jedoch zwei formale Charaktereigenschaften, die das neuzeitliche Denken identifizierbar machen: Einmal der Pathos des radikalen Neuanfangs und zugleich ein als absolut intendierter Anspruch auf Universalität. Ersteres wird in einer Mentalität greifbar, dass man Altes nicht verbessern, sondern nur radikal ersetzen, es also ausschließlich praktisch neu entwerfen kann. Das überlieferte Wissen ist daher im Ganzen falsch und nur durch einen radikalen Neuanfang zu überwinden. Später wird das Werk Descartes’ selber als „Neustiftung der Philosophie“ gerühmt, wenn es bei ihm auch nur um eine Neuerrichtung der Wissenschaft ging. 16
Der Anspruch auf Universalität folgt nun logisch aus dem Pathos des radikalen Neuanfangs. Denn wenn nichts Altes mehr fortzuführen ist, muss konsequent alles von Neuem beginnen. So wird die mathesis universalis fortan zur universalen Grundlage des Wissenschaftskanons, welche gleichzeitig die alten fachlichen Besonderheiten anderer Wissensgebiete einebnet. Für den Fortgang dieses Prozesses lässt sich insgesamt zeigen, dass die Neuzeit ebenso, wie sie radikal neu ansetzt, auch „unerbittlich vereinheitlichend, universalisierend, totalisierend“ geprägt ist. 17
Die neuzeitliche Moderne versteht Welsch in all jenen Bewegungen verwirklicht, welche in unterschiedlichen Konzeptionen als Infragestellungen dieses Konzeptes für eine Selbststeigerung des neuzeitlichen Modells stehen. Damit erweisen sich nach Welsch solche Oppositionsbewegungen allesamt selber als neuzeitlich. Denn sie reproduzieren nichts weniger als „die neuzeit-typischen Charakteristika des Neuanfangs, der Radikalität, der Ausschließlichkeit und Universalität.“ 18Daher ist auch der neue, oppositionelle Weg stets der einzige und ausschließliche: Pluralität und Partikularität sind selbstredend solchen Bewegungen zutiefst fremd.
Ebendiese Werte der Pluralität und Partikularität werden jedoch innerhalb der Moderne des 20. Jahrhunderts denkbar und sogar verbindlich. Wissenschaftstheoretisch wird der Abschied von holistischen Konzepten praktiziert: es gibt keinen Zugriff mehr auf ein Ganzes und alle Erkenntnis erweist sich damit als begrenzt. Wirklichkeit folgt nicht mehr einem Modell, sondern vielen; sie ist daher konflikthaft geladen und zeigt ihre Einheitlichkeit lediglich noch in spezifischen Dimensionen. Dies führt zu einer „Mutation im Kern der Neuzeit“: 19Pluralität, Diskontinuität und Partikularität, vorher undenkbare Elemente des wissenschaftlichen Diskurses, halten nun Einzug in das wissenschaftlich-mentale Bewusstsein des 20.
Jahrhunderts. So wird Partikularität durch Pluralität abgelöst, und zeitgleich werden Monopolismus und Universalität aus der wissenschaftlichen Debatte als unbrauchbare Instrumente verabschiedet. Es kommt zu einem Bewusstsein einer Wissenschaft, die mithilfe verschiedener Schulen, Modelle und Methoden operiert. Hier schon scheint eine Konkurrenz der Paradigmen auf, welche jedoch noch keinen Ausschluss genereller, allgemein gültiger Theorien bedeutet. Diese haben es jetzt nur schwerer als früher, widersprechen der grundsätzlichen Pluralität jedoch nicht. Diese Vorgänge finden sich nun beispielsweise zeitgleich in der Kunst aufgegriffen, welche in Gestalt eines Stilpluralismus zur Kollage mehrerer heterogener Paradigmen innerhalb eines Kunstwerks fähig wird.
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