Der nun herzuleitende praktisch-theologische methodische Dreischritt entspricht dabei einem transversal angelegten Erkenntnisinteresse in optimaler Weise.
3. Zur methodischen Konzeption dieser Studie:
Der Dreischritt von Kairologie – Kriteriologie – Praxeologie
Mit dem methodischen Modell von Kairologie, Kriteriologie und Praxeologie ist der Weg des induktiven Vorgehens praktischer Theologie beschrieben, welcher die Wirklichkeit anschaut, sie im Horizont theologischer Kriterien reflektiert, um schließlich zu einer Optimierung kirchlich-pastoraler Praxis zu gelangen. Diese Praxis soll demzufolge den „Zeichen der Zeit“ (GS 4) wie den entwickelten theologischen Kriterien mehr entsprechen können. Sie markiert den Zielpunkt eines dergestalt angelegten wissenschaftlichen Vorgehens. Ausgangspunkt bildet somit eine Praxis bzw. ein Ist-Stand kirchlich-sozialen Lebens, der um seiner Optimierung willen vertieft theologisch reflektiert wird. Paul Michael Zulehner begründet dieses Vorgehen in seiner Fundamentalpastoral wie folgt:
„Thema unserer Praktischen Theologie ist […] nicht eine zeitlose „Ekklesiologie“, eine Lehre von der Kirche, wie sie ist oder sein soll, sondern situative, kontextuelle Lehre von der „Ekklesiogenese“, der „Kirchengeburt“, wobei diese Geburt identisch ist mit ihrer „Praxis“, ihrem Handeln.“ 43
Herbert Haslinger erfasst die Methode dazu in Beschreibung der unterschiedlichen Grundlegung der drei Schritte von Kairologie, Kriteriologie und Praxeologie:
„Im Hinblick auf die jeweils zu reflektierende bzw. zu konzipierende Praxis
- wird zunächst die Situation mit ihren Gegebenheiten und systemischen Zusammenhängen in Gesellschaft und Kirche kritisch, d.h. mit dem Interesse an der Aufdeckung und Veränderung von Fehlentwicklungen, wahrgenommen und radikal, d.h. möglichst bis auf den Grund der Ursachen und Wirkzusammenhänge gehend, analysiert;
- folgt in einem zweiten Schritt die argumentative Zugrundelegung der im christlichen Glauben, näherhin in Schrift und Tradition enthaltenen Kriterien, um Situation und Praxis nach dem Maßstab des Evangeliums zu beurteilen.
- gelangt man schließlich von dieser Orientierung aus über die Formulierung von Zielen, die Planung von Handlungsschritten und die Verständigung der Beteiligten über ihre Rollen zu einer neuen, den situativen Erfordernissen und Möglichkeiten wie auch den theologischen Kriterien entsprechenden Praxis bzw. zur Konzeption einer solchen Praxis.“ 44
Zulehner gibt desweiteren Kriterien an, nach welchen diese Methode sinnvollerweise operiert. 45Er erläutert die ersten beiden Schritte als zweifache Reflexion: Die Kairologie erforscht mit den Mitteln der Sozialwissenschaftler bzw. Anthropologen, Philosophen oder Psychologen die „Zeichen der Zeit“. Damit ist die Kairologie eine „Lehre von den Situationen“. 46Notwendig kommt jedoch ein zweiter Schritt hinzu, den Zulehner als „Lehre von den Zielen“ definiert. 47Er ist die Kriteriologie. Sie macht die wahrgenommenen Situationen im eigentlich theologischen Sinne erst zum Kairos. Mit ihr wird die kairologisch wahrgenommene Zeitsituation zum „Erfahrungsort Gottes in der Geschichte“, welcher freilich notwendig den ersten kairologischen Schritt voraussetzt, denn: 48
„Wer erfahren will, was Gott von seiner heutigen Kirche an Praxis erwartet, muß die „Zeichen der Zeit“ lesen und fragen, was Gott seiner Kirche durch diese Zeichen der Zeit an Handlungsmöglichkeiten und damit Handlungsaufforderungen eröffnet.“ 49
Die Kriteriologie ist demnach eine Weise des Auslotens theologischer Denk- und Handlungsmöglichkeiten angesichts einer sozial und anthropolgisch feststellbaren Realität der Gegenwart. Sie führt in den dritten Schritt der Praxeologie, indem sie auf dem Hintergrund von Kairologie und Kriteriologie Handlungsoptionen formuliert.
Praxeologisch kann es jedoch je nach Ergebnis des kriteriologischen Fragens zwei verschiedene Weisen von Handlungsimperativen geben. Entweder erweist der Weg durch die Kriteriologie die bisherige Praxis als zielsicher und situationsgerecht; das kann die Handelnden ermutigen, den eingeschlagenen Weg zielbewusst und sicher fortzusetzen. Die wissenschaftlich angelegte Prüfung der Praxis bzw. eines Handlungsmusters kann allerdings auch nachweisen, dass sich die aktuelle Praxis als nicht mehr angemessen zeigt. Dafür lassen sich nach Zulehner wiederum zwei große Motive ausmachen: Entweder kann das Handeln der Kirche als zielunsicher identifiziert werden, oder es kann ein Handlungsstil einer Situation nicht mehr angemessen sein, da dieser von Prämissen ausgeht, die sich weiterentwickelt und damit verändert haben können. Ein Stil bzw. situativer Umgang mit einer pastoralen Situation kann für seine Zeit adäquat gewesen sein, mittlerweile jedoch unter dem Fortgang diverser Entwicklungen diese Angemessenheit eingebüßt haben. Dies führt unmittelbar in die prophetische Dimension, welche der Praktischen Theologie innerhalb kirchlicher Erkundungsprozesse zukommen kann.
In der Praxeologie ist für den letzten Fall mithilfe der kairologischen und kriteriologischen Ergebnisse eine praktisch-theologische Handlungstheorie für den kairologisch erfassten pastoralen Kontext zu entwerfen. Überdies sind aufgrund dessen bereits erste modellhafte Aussichten auf eine veränderte, weil weiterentwickelte Praxis aufzuzeigen.
Vor diesem Hintergrund lässt sich das zuvor beschriebene transversale Erkenntnisinteresse innerhalb dieses Dreischritts angemessen verorten: Wenn oben festgehalten wurde, dass unter postmodernen Bedingungen die meisten feststellbaren Dissense als Paradigmenkonflikte identifizierbar werden, eignen sich die Schritte von Kairologie – Kriteriologie – Praxeologie ideal, um Paradigmen transversal zu verschränken. Ein Paradigma wird somit kairologisch erfasst und anschließend kriteriologisch als mit einem anderen unharmonisierbar nachgewiesen. Zugleich können hier trotz aller Heterogenität Brückenpfeiler für eine transversale Verschränkung beider Paradigmen sichtbar werden. Sie führen sodann zu weiteren Kriterien, welche für die praxeologische Umsetzung handlungsleitend werden.
Damit sind bis hierher die wesentlichen methodischen Vorentscheidungen getroffen und erläutert, welche nun den transversal angelegten Diskurs zwischen Gemeinde- und postmoderner Volkskirche mithilfe des Dreischritts von Kairologie-Kriteriologie-Praxeologie ermöglichen.
4. Vorschau auf die Argumentationsstruktur
Inhaltlich wird dieser Dreischritt innerhalb der vorliegenden Ausarbeitung wie folgt gefüllt werden.
Im ersten Schritt der Kairologie wird mithilfe soziologischer bzw. empirischer und theologischer Grundlagen ein Phänomen gegenwärtiger pastoraler Praxis zu erfassen gesucht: Das andere Volk Gottes, das später genauerhin als postmoderne Volkskirche definiert werden wird, soll in einem ersten Blick mithilfe verschiedener Studien bzw. soziologisch-theologischer Wahrnehmungen zusammenfassend und auf gemeinsame Vergleichspunkte hin darstellend erfasst werden. Anschließend wird die pastoralsoziologische Forschung daraufhin befragt, inwieweit innerhalb ihrer Reihen Ergebnisse zu finden sind, welche sich mit den Ergebnissen des ersten Schritts decken. Ein Resümee beschließt diesen Teil und ein Fazit stellt gleichsam den Kairos heraus, dem es sich im Rahmen der weiteren Reflexionen in Kriteriologie und Praxeologie zu stellen gilt.
Der zweite, kriteriologische Teil schaut insgesamt in zwei Perspektiven auf das bislang wahrgenommene Phänomen: zum einen in der Perspektive der Gemeindeidee im Kontext der (Nach-)Konzilszeit, zum anderen in der dann erweiterten Perspektive der Volk Gottes-Theologie des II. Vatikanums.
Die erste Perspektive der Gemeindetheologie wie der Würzburger Synode stellt die bis in die Gegenwart fortdauernden Ideale einer Gemeindekirchlichkeit dar. Hieran soll näherhin nachvollziehbar werden, wieso die Gemeindeidee als Produkt eines als zuweilen neuzeitlich identifizierbaren innerkirchlichen Paradigmenwechsels für postmoderne VolkschristInnen eine wenig attraktive Möglichkeit bedeutet, um ihr Christsein bzw. ihre Religiosität zu leben. 50Dies wird umso evidenter, als vor dem Hintergrund verschiedener Versuche, welche das Konzept der Gemeinde für die seinerzeit sogenannten Gemeindefremden attraktiv zu machen versuchten, deren langfristige Unwirksamkeit konstatiert werden muss.
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