Wo aber lernt man das Sprechen in der Innenperspektive? Manche werden ein solches Sprechen als Fundamentalismus zurückweisen. Zu Unrecht, denn in diesem Fall wäre ja auch die Bibel durch und durch fundamentalistisch. Andere werden sich mit einem wissenschaftlichen Studium begnügen und für die Seelsorge ungeeignet sein. Wer nur referiert, was andere im Glauben gesagt haben, bleibt im entscheidenden Augenblick das Wesentliche schuldig. Schließlich gibt es die Möglichkeit, dass Absolvent(inn)en eines Studiums zwar in der Innenperspektive des Glaubens sprechen, aber auf ungeübte, vielleicht auch peinliche Weise. Anders gesagt: Der Übergang von der Außenperspektive zur Innenperspektive ist ein entscheidender Ort, um sich klar zu werden, worum es im Glauben eigentlich geht und wie es um den eigenen Glauben steht. Die Suche nach den rechten Worten ist die Suche nach der „Sache“. Man darf sie sich nicht ersparen. Wenn es um Gott geht, genügt es nicht, sagen zu können, wie Thomas von Aquin von ihm spricht oder Henri de Lubac – auch ich selbst muss sagen können, wer Gott ist. Das wird mir durch den Glauben abverlangt und natürlich auch durch die Seelsorge.
Nur durch mein Sprechen in der Innenperspektive, also durch mein Zeugnis kann ich vermeiden, dass die Weitergabe und Aneignung unserer christlichen Tradition – mit den Worten von Jürgen Habermas – zugleich ermöglicht und vernichtet wird. Nur so gewinne ich Klarheit über meinen Glauben und kann ich für andere eine Stütze im Glauben werden.
1 J. Habermas, Politik, Kunst, Religion. Stuttgart 1978, 133.
Edith Kürpick FMJ | Köln
geb. 1967, Priorin der Monastischen Gemeinschaft der Schwestern von Jerusalem, Köln, Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN
schwester.edith.koeln@jerusalemgemeinschaften.de
Plädoyer für eine Fahrrad-Spiritualität
Viele starten regelmäßig mit einer Reihe guter Vorsätze ins neue Jahr. Dazu gehört nicht selten auch die Absicht, in Zukunft wirklich mehr Sport zu machen. Für einen guten Vorsatz braucht es oft eine kleine Motivationshilfe. Und weil Sport ja durchaus etwas Ganzheitliches ist und nicht nur die Muskeln, sondern auch Geist, Herz und Verstand betrifft, soll hier ein kurzes Plädoyer für eine Fahrrad-Spiritualität skizziert werden.
Unübersehbar ist der Titel angelehnt an einen Text von Madeleine Delbrêl 1. Die folgenden Ausführungen haben aber auch ein wenig bei Romano Guardini vorbeigeschaut. Im Hintergrund steht die Vermutung, dass Christsein heute, in welcher Lebensform auch immer, tatsächlich ein bisschen mehr Bewegung braucht.
Eine kurze Vorbemerkung noch, um im Bild zu bleiben: Das Fahrradfahren verlangt einiges ab. Ob mit Gangschaltung oder ohne – in die Pedale treten muss man allemal. Ohne Selbstbewegung geht es nicht, auch wenn man fest im Sattel sitzt. Ein bisschen flexibel sollte man schon sein, denn manchmal, vor allem beim Abbiegen, ist es besser, sich mit in die Kurve zu legen. Dafür kann man aber auch etwas auf den Gepäckträger klemmen oder im Fahrradkorb mitnehmen. Und man kann, wenn man es denn kann, wunderbar freihändig fahren.
Seit einiger Zeit ist in unseren Städten ein hässlich-praktisches Konkurrenzgerät aufgetaucht: der E-Scooter. Den Zugang dazu gewährt kein Schlüssel zu einem altbackenen Rundschloss, sondern das Smartphone. Dann geht es auch schon los, wenn er (der Akku, nicht die Beine) denn aufgeladen ist. Man steht darauf senkrecht wie eine Eins, wie mit einem unsichtbaren Brett im Rücken, und wird ohne Anstrengung unbewegt fortbewegt. Mitnehmen kann man so gut wie nichts, beugen muss man sich nicht und ins Schwitzen kommt man garantiert nicht. Man hat alles im Griff und, so scheint es, den kompletten Überblick über jede Situation, durch die man souverän hindurchrauscht. Nur eines sollte man in jedem Fall – nicht nur wegen des angedrohten Bußgeldes – tunlichst vermeiden: versuchen, freihändig zu fahren! Alles in allem vielleicht kein optimales Bild für eine heutige Spiritualität … Von daher also ein Plädoyer für die des Fahrrads.
Nur „eine“ Spiritualität?
Natürlich drängt sich sofort eine Rückfrage auf: Ja, gibt es denn nur eine Spiritualität? Die – richtige – Spiritualität? Die Frage ist nicht neu 2und ist hier nicht zu vertiefen. Christliches geistliches Leben soll in diesem Zusammenhang, verkürzt gesagt, verstanden werden als Widerhall, als Ankommen der Heilsgeschichte im Leben des oder der Einzelnen 3und Spiritualität entsprechend als reflektiertes und verantwortbares Leben aus eben dieser Heilsgeschichte. Die aber artikuliert sich prozesshaft: Sie bewegt sich zwischen Himmel und Erde, Gott und Menschen, Gnade und Freiheit, Aktion und Passion, aber auch Treue und Versagen, Suche und Erfüllung … Zwischen diesen Koordinaten sind wir, wenn man so will, mit unseren Rädern unterwegs.
Christsein auf Erden meint: werden, was wir sind. Treue zu unserer Taufgnade kann es ohne Werden nicht geben. Im Prisma der Spiritualität brechen sich die Lebensfarben in vielfältigen Facetten, gezeichnet von Bewegung und Wandel. Man könnte sich fragen, ob es nicht Grundelemente gibt, die für eine Beweglichkeit und Lebendigkeit unverzichtbar sind. Oder, anders gesagt, notwendige Grundhaltungen für eine Fahrrad-Spiritualität. Vermutlich gibt es viele. Aber weil Fahrradfahren ja im Grunde kinderleicht ist, seien hier nur vier in Erinnerung gerufen.
Ein Glaube, der die Erde liebt
Keine Frage: Unsere Zeit, unsere Zivilisation, unsere Kontexte werden immer weiträumiger und zugleich individualistischer, immer schneller und multikultureller, immer komplexer und unlesbarer. Ob wir es wollen oder nicht, wir sind eingebunden in vielschichtige und einflussreiche Prozesse wirtschaftlicher, sozialer, kultureller, medialer oder politischer Art. Dem ungeahnten Reichtum an Möglichkeiten und Angeboten, den stimulierenden Herausforderungen steht ein hohes Maß an Überforderung und schmerzvollem Scheitern und Nicht-Mithalten-Können gegenüber. Es drängt sich manchmal der Eindruck einer multioptionalen Zerfahrenheit, einer „angestrengten Diesseitigkeit“ (P. M. Zulehner) auf. Der Mensch ist immer noch ein Homo viator, er klickt sich existenziell einfach anderswo weiter, tritt die säkulare Flucht in die Welt an: Erfahrung to go und scheinbar um jeden Preis, „Transzendenz bestenfalls im Selbstversuch“ 4. Das kann einen gläubigen Menschen schon manchmal entsetzen und ziemlich zusetzen.
Und doch liegt das Problem des gläubigen Menschen nicht so sehr in diesem Entsetzen, sondern vor allem darin, dass die allererste und bleibend gültige Geste Gottes über alles Geschaffene vergessen wird: sein Segen. Vom ersten Blick Gottes, der sah, dass es „sehr gut“ war (Gen 1,31), bis hin zu der Zusage des Auferstandenen „Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt“ (Mt 28,20) liegt auf dieser Welt, auf den Menschen und auf ihrem Wachstum Gottes Segen. Erstaunlich, wie sehr der Segen heute unterschätzt wird! Wir können eben nicht auf einem spirituellen E-Roller mit heimlicher Verachtung im Herzen und großem Jammern auf den Lippen souverän über unsere Zeit hinwegfliegen und uns vermeintlich geistlich, d.h. billig aus ihr herausstehlen. Das wäre eine arge Illusion: „Es gibt Menschen, die, weil sie nicht ihrer Zeit angehören, meinen, der Ewigkeit anzugehören.“ 5Es wäre auch nicht der Weg Gottes, der, ob es uns passt oder nicht, „diese Welt so sehr geliebt hat“ (Joh 3,16).
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