An der Universität Bern bildete sich die Aktion niemals vergessen (ANV). Im November/Dezember 1956 gaben Studenten 15 000 Zünder für Molotowcocktails an die Bevölkerung ab und veranstalteten Übungen zu deren Gebrauch. In einem Flugblatt schrieb die ANV: «Es soll nur jedermann die Möglichkeit gegeben werden, in äusserster Notlage der Vernichtung von Familie und Heim nicht machtlos gegenüber zu stehen.» Während die Aktion in der Deutschschweiz auf grosse Sympathie stiess, verurteilte die welsche Presse diesen Bubenstreich. 88
Mit der Aktion «Use mit de Russe» versuchten die Studenten auch den nicht studentischen Teil der Bevölkerung zu aktivieren. Ein «Höhepunkt» dieser Aktion war die Rückkehr der 350 Mann starken Schweizer Delegation von den Weltjugendfestspielen in Moskau. Nachdem die Presse schon 14 Tage lang gehetzt und die Teilnehmer als Landesverräter dargestellt hatte, informierte die AFS an der Leuchtwandschrift beim Bahnhofplatz Zürich, dass die Teilnehmer am 13. August 1957 um 22.25 Uhr im Bahnhof Zürich-Enge einträfen. Die «Moskauwallfahrer», die auch als «Söldlinge der roten Pest», «Marionetten der kommunistischen Propaganda», «Dummköpfe» und «Verräter» bezeichnet wurden, wurden von einer wütenden Menge vorwiegend Jugendlicher empfangen und mit Fäusten traktiert. Der Delegation gehörten auch einige Lehrer an, die als «Schandfleck» für ihren Berufsstand bezeichnet und deren Ausschluss aus dem Lehrerverein gefordert wurden. 89Diese wütende Meute erinnerte Berthold Rothschild an den faschistischen Mob der Nazi-Zeit und führte ihn in einer politischen Wende hin zum Marxismus. Nach langen inneren Kämpfen wurde er Mitglied der PdA. 90In Zürich erlebte er die antikommunistische Hysterie als besonders gross. Gefördert durch die NZZ, sei ein Repressionsniveau entstanden, wie es das in anderen Landesgegenden, insbesondere in der Westschweiz, nicht gegeben habe. «Langsam nistete sich in uns die ‹Rot-gleich-Braun-Ideologie› ein – man baute in seinen Alpträumen langsam Russen ein, wo vorher Nazis waren.» 91
Die PdA war in offener Auflösung. Aus der 16-köpfigen PdA-Fraktion im Basler Grossrat traten zehn Mitglieder aus. Die Sektion Basel büsste etwa die Hälfte ihrer Kader ein, in Zürich verliessen drei Viertel die PdA. Viele machten nach 1956 einen radikalen Schwenker. Ulrich Kägi, langjähriger Präsident der Freien Jugend und bis September 1956 Zürcher PdA-Kantonsrat, später Redaktor der Weltwoche mit rechtsbürgerlicher Tendenz, schrieb: «Die PdA wurde immer mehr zu einem blossen Propagandainstrument der sowjetischen Innen- und Aussenpolitik.» Sie sei «eine Kompagnie einer von Moskau geleiteten Armee». 92Zwischen den Deutschschweizer Sektionen und derjenigen in Genf gab es allerdings eine grosse Kluft. Die Genfer Genossen standen unverbrüchlich zur Sowjetunion, wie die NZZ höhnte. «Ungerührt und unberührt vom brutalen Eingreifen der Sowjettruppen in Ungarn steht einzig die Stalinistenclique in Genf da. Sie hat sich bis heute ängstlich gehütet, an der Sowjetunion öffentliche Kritik zu üben.» Sie hätten lediglich ihren «Schmerz» über die Ereignisse bekundet, im Übrigen die These vom Eingreifen zum Schutz vor «reaktionären» Elementen unterstützt. Um von den Ereignissen abzulenken, werde die «Jeremiade über die antikommunistische Welle» angestimmt. 93
In der Westschweiz war der Druck auf die PdA-Mitglieder weniger stark, trotz Solidarität gegenüber Moskau. Nur gerade drei prominente Mitglieder traten aus. Es gab auch keinen Inserateboykott von öffentlichen oder privaten Institutionen gegenüber der Voix ouvrière. Im Dezember 1956 unterzeichneten bürgerliche Intellektuelle einen Appell, «in welchem die kommunistischen Mitbürger von jeglicher Diskriminierung in Schutz genommen werden» und die «Intoleranz» gegenüber prosowjetischer Gesinnung als «Verrat an der Sache selbst, für die das ungarische Volk kämpft», bezeichnet wird. 94In der Deutschschweiz wäre ein solcher Appell undenkbar gewesen.
Kein Ereignis im Kalten Krieg war dermassen emotional wie die Unterdrückung des Ungarn-Aufstands. Es befeuerte das Klima des Antikommunismus in einer kaum vorstellbaren Weise und löste eine enorme, oft allerdings nur symbolische Welle der Hilfsbereitschaft und Solidarität aus. In die Hilfsaktionen für Ungarn wurden Zehntausende von Schülerinnen und Schülern eingespannt, die oft den Sinn nicht einsahen, weshalb sie für Ungarn stricken mussten. Dafür erhielten sie eine gehörige Dosis Antikommunismus mit auf ihren Lebensweg. Auf Differenzierung legten die Antikommunisten keinen Wert, wer auch nur den Anschein von Kommunistenfreundlichkeit machte, wurde verfolgt, diffamiert, geächtet. «Ungarn» war für die Schweizer Sozialdemokraten und Gewerkschaften die Gelegenheit, ihre Loyalität zur Schweizer Demokratie und ihre Kommunistenfeindlichkeit zu bezeugen. Ihr Antikommunismus war oft rabiater als der bürgerliche. Die Niederschlagung des Ungarn-Aufstands spaltete die Schweizer Kommunisten. Davon und von ihrer Verfolgung erholten sie sich nie mehr, sie wurden aber noch jahrzehntelang als Gefahr betrachtet und vom Staatsschutz beobachtet.
Hasskampagnen und Ausgrenzung
Der 1903 geborene marxistische Theoretiker, Kunsthistoriker, Philosoph und Lehrer Konrad Farner, dessen Bücher in 13 Sprachen übersetzt wurden, war das Feindbild des Bürgertums schlechthin. Er galt als finsterer Drahtzieher, der in seinen Kursen die Jugend verderbe. Der höchst gebildete Farner, der als sehr charmant galt, war die Dämonisierung des Kommunismus in Person. Er war 1923 in die KPS eingetreten und hatte sich mit Kursen zum Marxismus einen Namen gemacht. Als er 1951 eine Delegation der GSS anführte, vermeldete die Gesandtschaft in Moskau an die Zentrale in Bern: «Bei Dr. Konrad Farner […] handelt es sich keineswegs um einen harmlosen Pazifisten, sondern um ein gefährliches Mitglied der PdA, dem vor allem die ideologische Schulung der Parteimitglieder obliegt. Er muss weiterhin als der gewiegeste [sic] und gefährlichste Demagoge und Lehrmeister des Kommunismus in der deutschen Schweiz angesehen und im Auge behalten werden.» 95Weder sein internationales Renommee noch die Tatsache, dass er sich seit 1949 um einen Dialog zwischen Christen und Marxisten bemühte, nahmen seine Gegner zur Kenntnis.
Mit unverhohlener Freude beobachtete der Theologe und NZZ- Redaktor Ernst Bieri die Selbstzerfleischung der PdA. Bieri war aber nicht nur Beobachter, sondern auch Akteur, gar Brandbeschleuniger. Am 13. November kritisierte er in einem Artikel, dass sich führende PdA-Mitglieder unbequemen Fragen «durch Untertauchen entzogen hätten». Vielleicht könnte Dr. Rudolf Farner – so Bieri – Auskunft geben. Und weiter: «Er wohnt in Thalwil an der Mühlebachstrasse 11.» 96Damit hatte er die Schleusen geöffnet. Es folgte ein Hetzinserat in der Lokalpresse, in dem stand: «Wir wollen keinem, der morgen schon unser Henker sein kann, heute die Hand geben.» Drei Tage später ging es los. Farner war zu dieser Zeit in Berlin, wo er die Abdankungsrede für Bertold Brecht hielt. Ehefrau Martha Farner schilderte die Vorfälle später so: «Um 19 Uhr läutete die Hausglocke wie verrückt und hörte nicht mehr auf. Es hatte eine grosse Menschenmenge vor dem Haus. Die Leute riefen: ‹Hängt ihn, hängt ihn.› […] Ein Auto eines Obersten leuchtete mit den Scheinwerfern unser Haus an, sonst war es dunkel. Ein Polizist postierte sich hinter der Tür. Man versuchte, die Türe aufzuknacken, die ich mit Balken sicherte. Die Leute standen noch bis Mitternacht vor dem Haus.» 97
Auf die Fassade wurde «Kreml» geschmiert, es wurden Farbeier an die Hauswand geworfen. An jedem Tag erhielten Farners 10 bis 20 anonyme Telefonanrufe. «Die unglaublichsten Leute riefen an und sagten böse Dinge, sogar vermeintlich gute Bekannte.» Sie sagten Dinge wie: «Verrecked» oder «am besten wär’s, ihre ginget nach Sibirien». Die Tür war oft mit Kot verschmiert. Viele Gewerbler hatten unterschrieben, dass sie Farners nicht mehr bedienen würden. Dennoch erfuhr Martha Farner in diesen Wochen von etlichen Leuten, auch unbekannten, Zeichen der Solidarität. Nicht aber von ihrem Bruder, der freisinniger Friedensrichter und Gemeinderat war.
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