Thomas Hoffmann
Die Meergeborenen
Roman
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Inhaltsverzeichnis
Titel Thomas Hoffmann Die Meergeborenen Roman Dieses ebook wurde erstellt bei
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Quellenverzeichnis
Impressum neobooks
Regenschauer peitschten über die Steilküste, als wir aus den Wetterbergen in die Küstenebene herabkamen. Durch den Regen drangen Todesschreie an mein Ohr. Todesschreie von Seeleuten, deren Schiffe ich mit den Männern meines Heimatdorfs auf Klippen gelockt, gekapert und versenkt hatte. Sie mischten sich mit den Schreien verbrennender Mönche, dem Brüllen der Flammen in einem einstürzendem Kloster.
Du bist entkommen. Du bist ihnen allen entkommen. Selbst ihr ...
Ich blieb stehen. Die Gefährten gingen voraus dem dunkel aufragenden Turm entgegen, dessen Silhouette auf einer der Steilküste vorgelagerten Klippe stand. Meine Wolljacke war schwer vom Regen, Wasser rann mir übers Gesicht. Es war egal. Die Stimmen und Bilder in meinem Kopf wurden übermächtig.
Eine blutige Hand reckt sich mir aus einem Kuttenärmel entgegen. Jemand schreit um Erbarmen. Das Geräusch von Stahl, der in Fleisch schlägt. Beißender Rauch in meinen rasselnden Lungen, mein Arm schmerzt vom Parieren der Schwertschläge von allen Seiten. Die hastige Flucht den Felsenbach hinauf, Lyanas verheultes Gesicht im Nachtdämmer.
„ Nur ein Buch klauen hatten wir uns vorgenommen,“ hatte sie geschrien, „ohne dass jemand dabei zu Schaden kommt!“
Das niederbrennende Kloster unter uns. Der plötzliche Angriff im Dunkeln, der Blutschwall aus Lyanas Stiefel, mein verzweifelter Hilferuf, dann sie , Ligeia:
„ Ich kann ihr kein Leben geben, Leif, ich habe selbst nicht genug davon... Es sei denn, du...“
Blut und Flammen. Geruch von Opferkräutern. Der Geruch der schwarzen Magie. Blut rinnt Lyana über die Lippen: mein Blut. Und mit einem Mal alle Eindrücke übertönend Wielands Stimme:
„ Seht zu, dass ihr von ihr loskommt. Andernfalls geb' ich keinen Viertelkreuzer mehr für euer Leben.“
Ligeia. Noch gestern hatte ich geglaubt, sie würde uns töten. So, wie ich es in jener Vollmondnacht geglaubt hatte, in der sie mich auf ihren Opferhügel gerufen hatte, mir das Blut des Ziegenbocks zu trinken gab, um dann mein eigenes zu trinken. Sie hatte uns gehen lassen – mit dem Buch, um dessentwillen wir in den Nordbergen unser Leben aufs Spiel gesetzt hatten, das sie unbedingt ausgeliefert haben wollte. Nun brachten wir es unserem Auftraggeber, dem Herrn von Dwarfencast, der Turmburg auf der Klippe.
Ich blickte über die grasbewachsene Ebene. Der Küstenwald im Süden war kahl. Graue Äste schwankten im stürmischen Herbstwind. Von dort aus wanderte mein Blick die Hügelreihe im Landesinneren entlang. Im Norden wurden die Hügel höher und zerklüfteter. Dort verdienten sie den Namen „Wetterberge“ noch am ehesten. Ich dachte an das Moor hinter den Wetterbergen – ihr Moor – und die schneebedeckten Gipfel der Nordberge jenseits davon.
Einsames, von Geistern heimgesuchtes Land. Land versunkener Königreiche, verschollener vorzeitlicher Heiligtümer. Land der Schatten, in denen der Fluch vergangener Kriegswirren lauert. Land dunkler Prophezeiungen von der Wiederkunft alten Unheils, wo Hexen und Alchimisten den Mythen vergangener Macht auf der Spur sind...
Es war das Land meiner Träume. Vor Jahren schon hatte ich von diesem Land geträumt, wenn ich in dem alten, von Schimmel und Feuchtigkeitsflecken befallenen Reisebericht las, den ich in der Hütte meines Vaters aufgestöbert hatte. Und noch heute frage ich mich, was aus mir geworden wäre, wenn mein Vater mich nicht gezwungen hätte, lesen zu lernen. Wahrscheinlich hätte ich mein achtzehntes Lebensjahr nicht überlebt, in welchem Sven und ich mit Katrina, dem fremden Mädchen, das zuvor lange unter den Soldaten gelebt hatte, aus Brögesand fortgingen. Nicht lange nach unserem Auszug wurde unser Dorf wie alle Siedlungen längs der Küste zwischen Torglund und Wedderhaven von den Soldaten der Torglunder Kriegsschiffe geschleift. Ich weiß nur deshalb davon, weil ich damals meiner Mutter versprochen hatte, sie einmal wieder zu besuchen. Ich sah sie nie wieder.
Katrina war vom Zufall getrieben in unser Dorf gelangt, nachdem der Mann, der für wenige Monate ihre große Liebe gewesen war, sie für eine andere Frau verlassen hatte: Andreas Amselfeld, Armeearzt und Universitätslehrer. In der Expeditionsarmee des General Wolfart auf dem Marsch in das Grenzfürstentum Greifenhorst war Katrina ihm begegnet. Die Monate mit ihm waren vielleicht die glücklichsten ihres Lebens gewesen. Jetzt, zweieinhalb Monate nach unserem gemeinsamen Aufbruch aus Brögesand, befanden wir uns im Land meiner Abenteuerträume. Aber ich fand es nicht so, wie ich davon geträumt hatte.
Lyana blieb stehen und schaute zu mir zurück. Sie wusste, was mir durch den Kopf ging. Seit Ligeia ihr oben in den Nordbergen mit schwarzer Magie und meinem Blut das Leben gerettet hatte, hatte sie Teil an meinen Gedanken. Das in Lederwams, Lederhosen und Stiefel gekleidete Mädchen kam zurück und legte mir die Hand auf die Brust. Ihr dunkelblondes, vom Stirnband gehaltenes Haar trug sie offen im Regen. Den Bogen hatte sie abgespannt auf die große Ledertasche geschnallt, die sie am Riemen über die Schulter gehängt trug. Ihr Schwert in der versilberten, mit Ornamenten versehenen Scheide trug sie an der Seite. Ihre Waldläuferkleidung war dunkel vor Nässe.
Nichts an ihrem Äußeren deutete auf ihre jüngere Vergangenheit hin. In der Hafenstadt Torglund war die siebzehnjährige Hafendirne uns über den Weg gelaufen. Katrina rettete sie vor einem wütenden Freier, den sie bestohlen hatte und überredete sie, mit uns zu kommen. Aufgewachsen war Lyana in den Urwäldern des Südens. Ihr Vater war Fallensteller gewesen. Ihre Irrfahrt über die Landstraßen, durch die Gossen und Barrackensiedlungen der Vorstädte des Reichs hatte nach dem Tod ihres Vaters begonnen. Eine alte Frau rettete sie vor dem Verkommen in der Gosse, indem sie ihr den Wahrspruch mit auf den Weg gab, was ihr Herz suche, werde sie erst weit im Norden finden. Seitdem war sie unterwegs nach Norden. Und seit wir beim Abstieg aus dem Gebirge weiter nördlich große Urwälder erblickt hatten, wusste ich, dass diese Wälder ihr Ziel waren. Ich hatte ihr versprochen, nach der Schneeschmelze mit ihr dorthin zu gehen. Fall es mir gelang, Ligeia zu entkommen...
Lyana sah mich still an. „Wir finden einen Weg. Zusammen kommen wir durch.“
Es war unser Wahlspruch, seit wir vier gemeinsam unterwegs waren. Wir folgten Katrina und Sven, die dem Turm entgegengingen.
Über die Pferdekoppel und das angrenzende Stallgebäude gegenüber der Turmburg peitschte der Regen. Das Koppelgatter und der Zaun des kleinen Kräutergartens waren schwarz vom Regen. Am Gatter der Koppel standen aneinander gedrängt zwei Ponys. Ihre Felle trieften vor Nässe.
Wenige Möwen segelten hoch oben um die Zinnen Dwarfencasts. In den Dachfenstern des obersten Turmgeschosses leuchtete gespenstisches blaues Licht auf. Es leuchtete um so heller, je näher wir der schmalen, geländerlosen Steinbrücke kamen, die zum Turm hinüberführte. Ich spürte das vertraute Knistern in den Haaren und wider Erwarten fühlte ich Wiedersehensfreude in mir hochsteigen.
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