Thomas Hoffmann
Dwarfencast
Roman
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Inhaltsverzeichnis
Titel Thomas Hoffmann Dwarfencast Roman Dieses ebook wurde erstellt bei
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Impressum neobooks
Die meisten Abenteuer fangen in einem Wirtshaus an. Ich habe keine Ahnung, warum. In Wirklichkeit fangen sie wohl zu gar keinem bestimmten Zeitpunkt an. Dinge geschehen, man begegnet Leuten und irgendwann findet man sich in einem Strudel von Ereignissen wieder, die unweigerlich ihren eigenen Lauf nehmen. Doch woran man sich im Nachhinein erinnert, ist die eine folgenschwere Begegnung in irgendeinem Wirtshaus.
Erst, als es zu spät war, wurde mir klar, dass es Abenteuer nur im Märchen gibt. Was anfangs wie ein Abenteuer anmutete, wurde ein Kampf ums nackte Leben, ein verzweifelter Versuch, noch zu retten, was mir geblieben war von allem, wofür ich lebte.
Dem Mann, dessen Visionen mein Leben verändert haben, begegnete ich zum ersten Mal im Landgasthof „Zum einäugigen Piraten“. Die aus Feldsteinen errichtete, schindelgedeckte Schänke stand nicht weit von meinem Heimatdorf an der Steilküste bei der Landstraße nach Torglund. Brögesand hatte damals vielleicht fünfzig oder sechzig Einwohner. Zwischen den gedrungenen Hütten und zum Trocknen aufgespannten Fischernetzen tobten magere Kinder umher. Sie hatten nur wenige Kleidungsfetzen auf dem Leib. Die Alten saßen im Schatten der niedrigen Reetdächer, rauchten ihre Pfeifen oder flickten an den Netzen.
Die Fischerhütten drängten sich in den hinteren Teil einer sandigen Bucht. Ein wenig abseits lag Bredurs Dorfschmiede. Aus dem gemauerten Schornstein der Schmiede stieg von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang Rauch und den ganzen Tag über war Bredurs Schmiedehammer zu hören. Im Süden wie im Norden erstreckte sich hohe Steilküste. Am Südrand der Bucht ragte eine schmale Landzunge ins Meer. Bei Ebbe wurden zwei oder drei Steinwürfe vor der Landzunge die Felsen sichtbar, die dort unter der Wasseroberfläche lagen - eine ständige Gefahr für die zerbrechlichen Kähne, in denen wir mit unseren Vätern Tag für Tag durch die Brandung auf die See zum Fischen hinausruderten.
Die Landstraße, die an unserem Dorf entlangführte, war kaum mehr als eine sandige, von Händlerkarren in den Lehmboden gegrabene Spurrinne durch die grasbewachsene Küstenlandschaft, in der nur hier und da ein gedrungener Busch dem Wetter trotzte. Die Fahrrinne zweigte östlich von Brögesand von der Überlandstraße ab, welche die Kaiserstadt Klagenfurt mit der Hafenstadt Torglund im Norden verband. Die Händler, die diese Fahrrinne entlang kamen, waren raubeinige Leute auf von Eseln oder Schindmähren gezogenen Karren. Viele trugen schartige Schwerter und wurden von Männern begleitet, denen anzusehen war, dass sie für wenige Kreuzer jeden Auftrag annahmen. Die Karawanen der Tuchhändler und der reichen Kaufleute zogen mit ihren Söldnertruppen auf der Überlandstraße von Torglund nach Klagenfurt. Doch unser Dorf lebte vom Handel mit Krämern und armen Handelsleuten. Und sie lebten von dem, was sie in Brögesand erhandelten.
Die Händler kamen im Frühjahr, wenn die ersten Stürme vorüber waren und noch einmal im Herbst wenn das Wetter umschlug und der Wind kalte Regenschauer über die Küste peitschte. Sie kamen in den Tagen nach Neumond. Wenn die Händlerkarren heranzuckelten, wurde das Dorf lebendig. Kinder liefen jubelnd umher. Die Frauen legten Bretter über Böcke und stellten Bänke auf. Sie brachten getrockneten Fisch, Bier und Met in Tonkrügen. Die Männer standen schweigend dabei. Sie würden den Handel führen. Dabei ging es laut und derb zu. Es wurde viel getrunken. Oft dauerte der Handel bis in die Nacht. Die Kinder bekamen Zuckerbrötchen, Rosinen und Obst. In meiner Kindheit waren die wenigen Tage, die unser Dorf im Frühjahr und im Herbst von den Händlern besucht wurde, die großen Festtage im Jahr. Waren die Händler abgezogen, hatten wir Weizen, Öl, Tabak und Fässer voller Pökelfleisch. Neue Kleider und Gerätschaften waren eingetauscht worden. Der Wohlstand und der Reichtum, den die Händler uns brachten, war das Großartigste, was ich mir damals vorstellen konnte.
Später jedoch, als ich größer wurde, konnte ich keine Freude an diesen Festtagen mehr empfinden. Eine Zeit lang versteckte ich mich sogar und kam erst wieder aus der Ecke unserer Hütte hervorgekrochen, wenn der Festlärm vorbei und die Händler abgezogen waren.
Ich erinnere mich deutlich an den grauen Morgen, an dem ich den ertrunkenen Seemann am Strand fand. Ich muss sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein. Es war im Frühjahr in den Tagen nach Neumond. Ich war in aller Frühe aus dem Haus gerannt. Mutter hatte den Wasserkessel aufs Feuer gesetzt. Tante Lines Kinder und ich sollten der Reihe nach in dem großen Waschzuber mit Kernseife und Bürste abgeschrubbt werden. An diesem Morgen ergriff ich die Flucht vor der verhassten Prozedur. Und da fand ich ihn zwischen zerbrochenen Schiffsplanken, Fässern und Kisten an den Strand gespült, mit seltsam verrenkten Gliedern. Sein Haar und seine Kleider waren klatschnass. Die glasigen, gebrochenen Augen blickten zu den Wolken, die über den grauen Himmel jagten. Der Mund war aufgerissen und entblößte die gelben, schiefen Zähne.
Ich konnte es lange Zeit nicht fassen. Ich krallte mich in den Rock meiner Mutter, versteckte mein Gesicht in ihrem Schoß und heulte und schrie. Sie fuhr mir mit ihren rauen Händen durchs Haar, sagte kein Wort. Ich prügelte mit meinen kleinen Fäusten auf Vater ein.
„Warum?“ - „warum?“ schrie ich immer wieder.
Er fasste mich an den Schultern, biss auf seine Pfeife und blickte mir fest in die Augen. Sein wettergegerbtes Gesicht war in Tabakrauch gehüllt.
Zwischen den Zähnen hindurch erwiderte er mir: „Von getrocknetem Fisch allein kann man an dieser Küste nicht leben, Leif. Davon kann man nur ein Bettlerdasein fristen. Später wirst du es verstehen. Wenn du größer bist, nehmen wir dich in den Neumondnächten mit auf die Klippe.“
Mit der Zeit legte sich das Entsetzen. In dem Jahr, in dem ich zwölf wurde, war ich zum ersten Mal dabei, als die Männer in einer stürmischen Neumondnacht zu Beginn der Schifffahrtssaison nach Einbruch der Dunkelheit auf der Spitze der Landzunge ein großes, weithin sichtbares Feuer entfachten. In dieser Nacht geschah nichts. Die Männer waren missmutig. Die ganze Nacht hindurch bis zum Einbrechen der Morgendämmerung schlug mir das Herz bis zum Hals. Der tote Seemann stand mir vor Augen.
In den folgenden Nächten weigerte ich mich, hinauszugehen. Ich lag mit klopfendem Herzen auf meiner Schlafstelle und starrte in die Dunkelheit. Jeden Moment glaubte ich, das Splittern von Planken hören, glaubte durch den stürmischen Wind die Hilfeschreie und Stoßgebete Ertrinkender zu erahnen. Doch als die Männer am dritten Morgen durchnässt und erschöpft mit Kisten und Fässern, mit Segelbahnen voller Beutegut zu den Hütten zurückkamen, hatte ich in der Nacht überhaupt nichts gehört. Nur der immerwährende Wind hatte an Fensterläden und am Türriegel gerüttelt.
***
Ich bin Leif Brogsohn. Das Handwerk, das ich von meinem Vater erlernt habe, ist das Seeräuberhandwerk. Wenn zu Beginn und zum Ende der schiffbaren Zeit Sturmböen von der See her landeinwärts wehten und die Handelsschiffe hart am Wind segeln mussten, um nicht gegen die Küste getrieben zu werden, dann entfachten die Männer unseres Dorfs draußen auf der Landzunge in den mondlosen Nächten ein großes Richtfeuer. Die Kapitäne, die sich zu diesen Jahreszeiten von den höheren Frachtgewinnen verleiten ließen, die Fahrt von den Häfen im Süden nach Torglund zu riskieren, mussten in der Nachtschwärze glauben, es handle sich um das Richtfeuer von Zwiesund, wo die Küste steil nach Osten abknickt und die Schiffe zwischen einer wenige Meilen im Meer liegenden Felsengruppe und der Küste hindurchsteuern mussten, um den letzten Küstenabschnitt vor Torglund zu erreichen. Die Schiffe steuerten vom Feuer geleitet nah ans Ufer heran, wo sie den unter der Wasseroberfläche liegenden Felsen kaum je entkommen konnten. Der Sturm tat sein übriges, die gegen die Felsen geschleuderten Schiffe zu zerbrechen. Unsere Männer hatten lediglich das treibende Frachtgut aufzufischen und in ihren wendigen Kähnen an Land zu schaffen. Häufig begaben sie sich dabei selbst in Lebensgefahr. Doch das Leben an der Küste war hart, und mein Vater brachte mir bei: Wer Wohlstand will, muss bereit sein, unter Einsatz des Lebens dafür zu kämpfen.
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