Thomas Hoffmann
Blaues Feuer
Die Fahrten des Norbert Lederer
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Inhaltsverzeichnis
Titel Thomas Hoffmann Blaues Feuer Die Fahrten des Norbert Lederer Dieses ebook wurde erstellt bei
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Impressum neobooks
I. Teil
Die Siedlung im Gornwald
1.
Wenn die Läden vor den kleinen Fenstern gegen die Kälte und die Winterstürme geschlossen wurden – und gegen die dämonischen Geister, die in der dunklen Jahreszeit rings um die Dorfhütten lauerten – dann saß die Großmutter in dem mit Decken ausgepolsterten Lehnstuhl neben dem Feuer und die tief liegenden Augen in ihrem zahnlosen, runzligen Gesicht blickten dem Treiben der Hausgemeinschaft zu - voller Sehnsucht, so schien es Norbert: ein trauriger, hoffnungslos einsamer Blick.
Keiner der Hausbewohner beachtete sie. Norbert ging zu ihr, setzte sich auf den Stoß Feuerholz neben ihrem Lehnstuhl und lehnte den Kopf auf die Stuhllehne, wie er es alle Abende getan hatte seit er denken konnte. Und die Großmutter fuhr ihm mit der faltigen, dürren Hand durchs Haar und ihr runzliges Gesicht lächelte.
„Erzähl mir eine Geschichte, Großmutter,“ flüsterte Norbert. „Nicht eine von denen, die ich schon kenne. Erzähl mir eine neue Geschichte. Erzähl mir von drüben .“
Aber die Großmutter erzählte doch nur eines der alten Märchen, die sie Norbert früher schon erzählt hatte. Leise erzählte sie, sehr leise. Sie mussten beide leise sein, damit die Hofgemeinschaft sie nicht hörte.
Aber sie mochten noch so heimlich sein, die anderen bemerkten es doch.
„Was machst du da schon wieder, Bert,“ kreischte Norberts eineinhalb Jahre ältere Schwester Lene.
„Die Großmutter erzählt mir eine Gute-Nacht-Geschichte!“
„Großmutter ist tot, sie liegt in der Flussaue begraben! Komm da weg, das ist gruselig!“
Der Vater prügelte ihn. Norbert biss die Zähne zusammen, um nicht aufzustöhnen. Zwischen den Schlägen auf seinen wunden Hintern blickte er über Vaters Knie gebeugt immer wieder zum Lehnstuhl hinüber, wo Großmutter saß und stumm und verzweifelt ihren Sohn betrachtete.
„Ich habe dir verboten, da bei Mutters Stuhl zu hocken!“ wütete der Vater. „Du lockst uns die Totengeister ins Haus!“
Dann flüsterte Norberts Mutter hastig ein Gebet zur schwarzen Dame der Grotte, bevor sie ängstlich zum Lehnstuhl blickte, auf dem Großmutters Decken ausgebreitet waren wie zu ihren Lebzeiten. Als könne sie tatsächlich jeden Moment zurückkommen und böse werden, wenn sie ihre Decken nicht fände.
***
Hans Lederer prügelte seine Kinder und wenn es ihm notwendig schien auch seine Frau nicht aus Jähzorn, sondern weil er sich Sorgen machte um seine Familie, um ihrer aller Wohlergehen. Er war ein aufrechter Mann. Er trank nicht und vertrödelte den Tag nicht mit den anderen Hofbauern Wildenbruchs, die sich zum Pfeife Rauchen unter der Dorfeiche trafen. „Faules Gerede“ nannte er ihre täglichen Zusammenkünfte. Es machte ihm nichts aus, von Tagesanbruch bis zum späten Abend zu arbeiten, Kühe und Schweine zu versorgen, den Stall auszumisten, im Wald Holz zu schlagen. Und es war auch nicht oft, nicht einmal jede Woche, dass er für einen Nachmittag zu Verena ging, der jungen Witwe Jochen Methorsts, die ihren Hof allein mit ihren zwei Söhnen bewirtschaftete.
Wenn er ein Ferkel oder eine Speckseite für sie mitnahm, erklärte er: „Schließlich muss sie ihren Hof ganz allein führen. Wir müssen zusammenhalten in der Siedlung.“
Norberts Mutter kniff dann die Lippen zusammen und blickte bitter in eine Ecke. Aber sie sagte nichts dazu.
Hans Lederer ging hart mit sich um und dasselbe verlangte er von seiner Familie: seiner Frau Sigurt, ihren Kindern Norbert, Lene und Margit sowie seinem Bruder Beorn und dessen Frau Leika mit ihrem fünfzehnjährigen Sohn Oliver. Hans Lederers Vater hatte den Hof als einer der ersten Ansiedler in diesem Flusstal des Gornwaldes gegründet. Er war Kürschner gewesen in Trümmelfurt. Nach der Vertreibung der Kürschner aus den Stadtmauern im Jahr 749 war er fortgezogen. Das Kürschnergewerbe war einträglich, aber die Ledermacher waren verachtet und gefürchtet, weil es hieß, der Leichengeruch, der beim Gerben entstand, locke die Dämonen an.
***
„Bert, steh auf!“
Lene zog die Filzdecke weg, unter der Norbert sich in einem Winkel des Küchen- und Wohnraums auf seinem Lager zusammengerollt hatte, die ganze Nacht auf der Seite liegend, um seinen von den Schlägen wunden Hintern zu schonen. Hinter den Ritzen der geschlossenen Fensterluken graute der Morgen. Von der Herdstelle her flackerte Feuerschein durch den dunklen Raum. Die vierzehnjährige Margit und Leika unterhielten sich leise bei der Herdstelle. Sie hantierten mit Töpfen. Eiskalte Luft kroch Norbert unter die Wolljacke.
„Lass mich!“ zischte er seine Schwester an.
„Steh schon auf, du Faulpelz!“
Ein paar Atemzüge lang versuchten Lene und Norbert, einander die Filzdecke aus den Händen zu reißen, dann gab Norbert nach und setzte sich auf. Sofort verzog er das Gesicht vor Schmerzen.
„Margit und ich haben schon längst jede einen Eimer Wasser geholt! Das Frühstück ist gleich fertig und du hast deinen Eimer immer noch nicht gebracht,“ schimpfte Lene ihren stöhnenden Bruder aus. „Du bist acht Jahre alt und kein Kind mehr! Geh, raus mit dir!“
„Ich hasse dich, Lene.“
„Da, nimm deine Fußlappen!“ triumphierte das hagere Mädchen. „Und putz' dir die Nase!“
Es war nicht so sehr seine Schwester Lene, die Norbert hasste, es war vielmehr der frühe Morgen selbst. Im Sommer ertrug er es noch, in aller Frühe mit nackten Füßen über die feuchten Wiesen zum Bach zu gehen. Dann lagen Urwald und Felsen zu den Seiten des Tals im Frühnebel verborgen. Wenn er zur Bachmitte watete, wo es tief genug war, um den schweren Holzeimer voll zu schöpfen, spielte Norbert das eisige Wasser um die Füße und die Kiesel im Bachbett drückten sich ihm in die schwieligen Sohlen. Wenn er dann mit dem vollen Eimer zurück zu den Hütten ging, wurden ihm die Füße ganz warm. Es war kein Ersatz für die Wärme unter seiner Decke, aber doch ein kleiner Trost, ein Fingerzeig, dass das Leben es nicht völlig schlecht mit ihm meinte.
Jetzt im Winter biss die Kälte durch die um seine Füße geschnürten Leinenlappen, wenn er dem glatten, ausgetretenen Pfad den Bach entlang folgte. Wolljacke und die um die Schultern geschlungene Filzdecke nützten nichts. Die Kälte kroch von unten durch seine Kleider hinauf. Der Bach war zugefroren und im klammen Nebel musste Norbert weit hinauf in die Felsen steigen, um an die Stelle zu gelangen, wo der Bach unter Eiszapfen hervor einen Felsabsatz hinabstürzte.
Der schmale Trampelpfad führte an dem Felseinschnitt vorbei, in welchem die Grotte der schwarzen Dame lag. Die Klamm vor der Grotte war von Schnee freigeräumt. Ein paar Kränze aus vertrockneten Herbstblumen lagen vor dem schwarzen Grottenschlund, daneben verfaultes Obst. Björn Feldnersohn hatte die Grotte entdeckt, als die Neuansiedlung an dem kleinen Zufluss der Gorn gerade gegründet worden war. Norbert schauderte, wenn er zu dem im Nebeldunst liegenden Höhleneingang hinübersah. Ein Gefühl wie von klammen Fingern kroch ihm über den Rücken den Nacken hoch, ganz ähnlich dem Gefühl, das er hatte, wenn die Großmutter ihm die Haare kraulte, seit sie tot war. Aber hier bei der Grotte war es grausig und das Herz begann ihm zu rasen. Hastig stieg er den steilen Pfad bachaufwärts fort von der Klamm.
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