Robert Hoffmann - Die unbeschriebene Welt

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Paul wacht ohne jede Erinnerung in der Nähe eines mächtigen Wasserfalls auf. Er erkundet die Gegend und trifft auf eine Siedlung: Memoria. Dort erfährt er, dass sämtliche Bewohner ebenso einst ohne Erinnerung in dieser Welt erwacht sind.
Er lernt Maria kennen, eine Frau, die mithilfe des Brunnens (einem großen silbernen Zylinder in der Mitte der Siedlung) Häuser aus dem Boden emporsteigen lässt. Sie kümmert sich um die Belange der Stadt. Pauls Erstaunen wächst, als sie ihm die Schmiede zeigt, eine automatische Fabrik, in der Rohstoffe jeder Art umgewandelt werden können. Niemand weiß wer diese seltsamen Gebäude einst erbaute, sie waren bereits dort, bevor die ersten in Memoria erwachten.
Paul und Maria fühlen sich zueinander hingezogen, jedoch kann Maria kaum begreifen, warum Paul sich nicht mit dem Erinnerungsverlust abfinden will, wo es ihm in Memoria doch an nichts mangelt. Aber Paul lassen die Rätsel dieser Welt nicht in Ruhe. Erst als er weit draußen das Unbegreifliche mit eigenen Augen sieht, gibt er auf und findet seinen Platz in dieser kulturell lebendigen Stadt.
Dann eines Tages kommen die Erinnerungen zurück. Alte Ansichten und Ideologien gewinnen wieder die Oberhand. Mitten in dem Chaos und den Ängsten einer erwachten Stadt, offenbart sich Paul die ganze Tragweite dieser neuen, unbeschriebenen Welt.

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DIE

UNBESCHRIEBENE

WELT

Robert Hoffmann

Roman

Kapitelübersicht

Der Wasserfall

Memoria

Die Schmiede

Der Sonnenschirmmacher

Am Ende der Welt

Die Aufgabe

Der Konvent

Der längste Tag

Der Plan

Salvento

Das Gründungsfest

Zeitenwende

Kairos

Acra

Jules

Maria

Katharsis

Der Turm

Paul

Die Erde

Die unbeschriebene Welt

Der menschliche Antrieb

Geboren in eine Welt der Unterscheidung — das Ich, das Ihr und das Dingliche — wollen wir uns erkennen, um uns zu befreien, von der Fremdbestimmung.

Der Zündfunke menschlicher Intention ist das Bestreben erkannt zu werden, damit wir uns erkennen. Uns erfahren — nicht als ein Objekt, sondern als Mensch.

• • •

Sidus von Bouquin — Die freie Gesellschaft

Der Wasserfall

( . )

Ich öffne die Augen, helle Schlieren flirren über die Netzhaut, geblendet halte ich die Hand vor das Gesicht. Ein tiefes Rauschen dringt an meine Ohren; die mit Feuchtigkeit gesättigte Luft vibriert, es riecht erdig nach nasser Vegetation. Eine Taubheit breitet sich von meinem Kopf bis in die Glieder aus. Ich spüre den Boden, wie er sich mit meinem Atem hebt und senkt, als wäre ich mit ihm verwachsen, als hätte er mich soeben erst geboren. Wie nach einem tausendjährigen Schlaf, zwinge ich meine Lider, sich mehr und mehr zu öffnen, sich tränend an das grelle Sonnenlicht heranzutasten. Aus den unscharfen Konturen entsteht ein erstes klares Bild: eine wippende Baumkrone, ein blasser Regenbogen, ein weißer Vogelschwarm. Meine Hände ertasten den Untergrund: feuchtes Moos und kantiges Felsgestein. Ich richte meinen Oberkörper auf; dünne Bäume mit großen, kreisrunden Blättern umgeben mich, dazwischen drängen sich hohe Sträucher, an denen gelbe Früchte wachsen. Insekten schwirren herum und verfangen sich in einem Spinnennetz. Die Fülle der Sinneseindrücke überkommt mich wie die Sintflut einen Dürstenden: diese würzige Luft, diese intensiven Farben, dieses durchdringende Rauschen. Etwas stimmt nicht — wo bin ich?

Nichts.

Wie komme ich hierher?

Nichts.

Ich richte mich, an einen Baum stützend, auf. Was ist das Letzte, an das ich mich erinnern kann? Alles, was vor dem Aufwachen geschah, scheint wie ausgelöscht, eine klaffende Leere, die mich anstarrt. Als hätte es ein davor nie gegeben, als wäre es überhaupt lächerlich danach zu suchen — gleich der Frage, was vor dem Urknall war.

Ich blicke an mir hinunter: ein braunes Jackett, eine blaue Jeans und für diese Gegend viel zu schlichte Schuhe. Vielleicht bin ich gestürzt und mit dem Kopf aufgeschlagen? Ich taste durch die Haare hindurch den Schädel ab, kann aber, mit einer gewissen Enttäuschung, keine schmerzhafte Stelle oder Wunde entdecken. Ein entferntes Dröhnen lässt den Boden erschüttern, dann höre ich nur noch durchdringendes Rauschen. Irgendwo in der Nähe muss ein Wasserfall sein. Die Vegetation ist hier so dicht, dass ich kaum weiter als ein paar Meter blicken kann. Sobald ich herausfinde, wo ich bin, wird mir sicher wieder alles einfallen. Mein Körper bahnt sich einen Weg durch die Sträucher. Der sandige Boden gibt meinen glatten Sohlen Halt. Das Rauschen schwillt zu einem tosenden Fauchen an. Im Gewirr der Zweige kann ich eine Lichtung erkennen. Die Luft ist von feinen Wassertropfen durchsetzt und taucht die Gegend in einen diesigen Schleier. Ich drücke die letzten Sträucher zur Seite. Mit wackeligen Beinen betrete ich die Lichtung.

»Was ... ?«

Ich blicke auf eine Wasserwand, die wie ein flatterndes Tuch von der Felskante hoch über mir herabfällt. Weiße Streifen von aufgeschäumtem Nass ziehen ihre Bahnen im endlos blauen Gewebe. Die tosende Masse stürzt haushoch vor mir herab. Auf der rechten Seite wird die Strömung flankiert von einer Felswand, auf der linken Seite scheint es kein Ende zu geben. Dort winden sich die Wassermassen Hunderte von Meter dahin, bis sie in einer Biegung aus dem Sichtfeld verschwinden. Meine Augen versuchen unwillkürlich, dem herabfallenden Geflecht aus weißen Formen zu folgen. Mir wird schwindelig und mein Körper fängt an, unkontrolliert hin und her zu schwanken. Ich strecke, nach Balance suchend, die Arme aus und mein Blick findet im grasigen Untergrund Halt.

Unmöglich!

Ich müsste mich doch an eine derartige Szenerie erinnern können. Dieses Vakuum in meinem Gedächtnis droht, meinen Verstand zu verschlingen. In meinem Kopf sehe ich einen Lichtblitz, Energiewellen, die sich verdichten, Staub, der sich zu Sternen formt, Galaxien, die auseinanderdriften — mein persönlicher Urknall — gab es mich zuvor gar nicht? Gab es bis vor wenigen Minuten überhaupt irgendetwas? Ich habe das Gefühl zu fallen — in das Nichts, von dem ich gekommen bin.

Die Wolken geben die Sonne frei und das nasse Gras schimmert farbig im Licht. Ich spüre die Wärme auf der Haut und atme tief ein. Es wird sich schon alles wiederfinden, von irgendwo muss ich schließlich hergekommen sein. Niemand entsteht einfach aus dem Nichts. Ich erkunde, immer noch mit wackligen Beinen, die kleine Lichtung. Auf der linken Seite endet sie in einem Abgrund. Erst jetzt erkenne ich, dass dort der Wasserfall noch tiefer hinabstürzt. Auf der rechten Seite befindet sich eine Anhöhe — zu steil, um hinaufzuklettern. Vielleicht gibt es weiter vom Wasserfall entfernt irgendeinen Pfad?

Ich gehe zurück durch die Sträucher, erklimme linker Hand eine Böschung, dann klettere ich über Steinblöcke. Da ich in meinen Schuhen auf den feuchten Felsen immer wieder wegrutsche, komme ich zunehmend ins Schwitzen. Eigentlich, wie ich feststelle, ein angenehmes Gefühl von Körperlichkeit, von Lebendigkeit. Ich bemerke, wie sich auch auf dieser Seite ein Abgrund vor mir auftut. Je näher ich der äußersten Kante komme, umso klarer wird mir, dass ich hier keinen Weg finden werde.

Auf einem Felsen lassen meine Knie nach, und ich muss mich entkräftet hinsetzen. Von hier ist die Aussicht ebenso beeindruckend. Der Wasserfall ergießt sich weit unter mir in einen großen See. Der blaue Himmel verfärbt sich zum Horizont in orangefarbene Dunstschwaden, die nur hier und da von blassblauen Hügeln durchstoßen werden. Bänder von grüner Vegetation umrahmen ockerfarbene Felder. Überall zeichnen weiße Blumen kreisförmige Muster. Die gesamte Landschaft wird von immer feiner verästelten Flüssen durchzogen, welche vom See gespeist werden, der wiederum vom Wasserfall genährt wird. Das weite Land ist ein lebendiges, atmendes Organ mit blauem Wasser statt Blut. Eine Brise wirbelt Pollen durch die Luft. Es riecht nach nassem Gras. Nicht weit ab von drei großen Flüssen, kann ich bei einem von ihnen rechteckige Gebäude erkennen. Sie ragen als gelbe Flächen aus dem dichten Wald heraus. Details sind nicht auszumachen, aber es muss eine Siedlung sein. Ob ich von dort komme? Müsste mir dann nicht wenigstens der Name einfallen? Der Name — in diesem Augenblick fällt es mir erst auf — wie ist mein Name?

Nichts.

Was ist bloß mit mir passiert? Es ist, als wenn mich eine große Hand packt, mich zurückzieht in das Nichts. Eilig durchsuche ich meine Hosentaschen: eine durchsichtige Plastikkarte, ein zerfranstes Papiertaschentuch — kein Name.

»Das kann doch nicht ...«

Moment, das Jackett. In der rechten Tasche spüre ich einen Gegenstand und ziehe ihn heraus. Es ist ein abgenutztes Notizbuch. Hektisch blättere ich durch die Seiten: Endlose Tabellen mit Häkchen, zahlen und Abkürzungen, die mir nichts sagen. Was soll das sein? Auf dem Umschlag befindet sich ein großes P.

Ein rot verschwommener Lichtreflex erscheint im Blickfeld. Er hat die Form eines Schmetterlings und bewegt sich, meinem Blick folgend, zu den gelben Blüten, dann verblasst er so schnell, wie er gekommen ist. Ich reibe mir die Augen. Es muss einen Weg zur Siedlung geben. Von hier aus gibt es nur noch eine Möglichkeit — zurück zum Wasserfall. Ich richte mich auf und entdecke eine flache Felsebene, dort entlang sollte es mir leichter fallen zurückzulaufen. Meine Gedanken kreisen weiter um das schwarze Loch in mir. Was, wenn meine Erinnerung für immer ausgelöscht bleibt? Kann man überhaupt jemand seien, ohne zu wissen, wer man ist?

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