Thomas Neukum - Die Maskerade

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Die lässige Geschichtsstudentin Lina erlitt bei dem Attentat in einem Einkaufszentrum einen Schock und hält sich seitdem für die wiedergeborene Tochter eines römischen Kaisers. Ihr Wissen ist verblüffend. Als sie aus der Psychiatrie entlassen wird, wohnt sie bei dem traumatisierten und zugleich attraktiven Wachmann, der den Attentäter erschossen hat.
Sie lockt ihn aus der Reserve, spaziert mit Eleganz in orgiastische Affären und streitet sich mit ihrer Halbschwester, der Besitzerin des Einkaufszentrums. Bis diese ein fatales Kostümfest veranstaltet. Wer braucht eine Maske, und wer ist wahrhaftig?
Ein satirischer Roman wie ein Spagat zwischen Kulturgeschichte und Witz.

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Thomas Neukum

Die Maskerade

Satirischer Roman © 2019

Motto

Nach deinem Tode wirst du sein,

was du vor deiner Geburt warst.

Arthur Schopenhauer

Inhalt

Prolog

1. Die Erbin des Holiday Shopping Centers

2. Der Kapitalist und das Attentat

3. Aufbruch zu Lina

4. Ein trautes Gelage

5. Im Reich der Begierde

6. Linas Erzählung

7. Ben und die Versuche des Reinwaschens

8. Erregung öffentlichen Ärgernisses

9. Schleichjagd auf unchristliche Wahrheiten

10. Und im Schlepptau zu Kristin

11. Gruppentherapie mit Bacchus

12. Quer über dem dekadenten Schreibtisch

13. Buße bei Einbruch der Nacht

14. Belagerungszustände

15. Das Kostümfest - Motto: Spätantike

Epilog

Prolog

Der Mund der sommerlichen Nutte lächelte ihn an. Sehr auffällig gekleidet sah sie gar nicht aus. Doch ihr blanker Arm schmiegte sich an den Türrahmen wie an eine Lanze, und der Blick unter ihrem Wimpernvorhang wirkte prüfend. Welcher Typ Mann stand vor ihr?

Ben war 37 Jahre alt, sehr gepflegt und zugleich so kraftgemeißelt, als läge ein ausmergelnder Sturm hinter ihm. Nervös hatte er im strahlenden Tageslicht sein Carbon-Rad angekettet und versucht, nicht auf die runtergefallenen Wildpflaumen zu treten - unmöglich. Ihr Fruchtfleisch war bereits gärender Matsch.

Das Häuschen duckte sich mit bürgerlicher Fassade umringt von Wohnblöcken, Bäumchen und einer Autowaschanlage in einem Rostocker Stadtteil. Die beiden Klingeln, „Maier“ und „Schmidt“, hätten auch zu Ferienwohnungen führen können.

„Na, Süßer“, flötete die Nutte mit osteuropäischem Akzent, der wie knackende Zwetschgenkerne klang. Sein Herz pochte. „Schüchtern? Du hast mich doch vorhin angerufen, oder?“

„Ja, hab ich.“

In Rostock gab es keinen Straßenstrich. Stattdessen mieteten verschiedene Prostituierte wöchentlich Apartments, schmissen sich für Inserate in Pose und tingelten dann weiter. Berlin, Rom, Sodom - wo auch immer die alte Gier auf Frisches herrschte. Zumindest mussten diese Frauen als frei gelten. Was heißt frei? Sie hatten keinen Zuhälter außer den Bedingungen der Welt. Ben wusste das, obwohl er noch nie eine Nutte - höflicher gesprochen eine Sexarbeiterin - angefasst hatte.

Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und umgarnte ihn mit Parfum. „Dann komm.“

Er hinkte rein.

Durch einen weißen Flur gelangten sie in eine Wohnung mit Couchtisch, schwarzer Venus-Statuette und rosenrotem Bett. Die leichte Dame drückte ihr pralles Dekolleté an Ben und tastete über seine Hose. „Eine halbe Stunde siebzig Euro, nur blasen zwanzig. Vielleicht hast du aber spezielle Wünsche?“

Und nachdem sie ihm etwas vorgespielt hätte? Wie sollte sich dadurch sein Gefühl bessern, dass sein Leben in einer Sackgasse steckte? Er schluckte hart, versuchte seinen Nacken locker zu halten und nicht zu denken.

Würde sie das Geld an eine kranke Mutter in Polen schicken, verprassen oder sparen, damit sie nicht in reiferen Jahren putzen müsste? Wie viele Männer hatten in dieser Wohnung schon abgespritzt? Gedämpft schwoll nebenan Gestöhn.

„Oder erst eine Massage?“

Er zog einen Zwanziger aus seinem abgenutzten Portemonnaie. „Danke, aber ich habe es mir anders überlegt. Das ist für die Umstände.“

Ernst sah sie auf das Geld und zuckte dann clownesk mit der Achsel. „Na gut“, schnappte sie es sich. „Noch einen schönen Tag.“

Ben hinkte wieder raus zu den zermatschten Wildpflaumen. Enttäuscht, unbefriedigt und wütend schwang er sich auf sein Rad.

In einem schweißtreibenden Zickzack-Kurs raste er an den Fußgängern vorbei. Hoffentlich würde ihn ein abbiegender Lkw umnieten!

Doch er landete wieder in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung, die so ordentlich war, als hätte er einen ganzen Trupp Putzfrauen. Dabei tratschte hier nicht mal ein einsamer Fernseher. Ben zog die Schuhe aus, schrubbte sie mit einer alten Zahnbürste und wusch sich im Bad die Hände.

Dann ging er zu einem Bücherregal. Statt gleich das Gewollte herauszuziehen, zählte er jedoch von links die Exemplare ab, bis er zu dem Werk eines buddhistischen Meisters gelangte. Er schlug es beim Lesezeichen auf und setzte sich.

Sinnlos ist es zu beklagen, dass du die Gelegenheit auf einen saftigen Genuss nicht genutzt hast. Was hättest du denn jetzt mehr davon? Die dürre Mumie einer Erinnerung.

Jeder erfüllte Wunsch gebiert ohnehin einen neuen, und die flüchtige Befriedigung lässt uns bestenfalls erkennen, dass wir einer Illusion nachjagten. Darum gleicht die Welt einem eitlen Maskenball, auf dem gedrängelt und geschubst wird. Willst du inneren Frieden und wahre Leidensfreiheit, so entsage.

Das tröstete ihn. Lediglich die irrationale Lehre von der Wiedergeburt übersprang er, denn er glaubte an nichts mehr, an gar nichts.

1. Kapitel

Die Erbin des Holiday Shopping Centers

Kristin Nortius hatte einen Ellbogen auf den Schreibtisch und ihren Kopf mit dem kastanienbraunen Haar in die Hand gestützt. Ihre Bluse war oben aufgeknöpft, und der Chefsessel unter ihr schaukelte wie in einem trägen Tanztrott, als sie sich durch das Labyrinth einer Bilanz klickte. Mit einem Blick auf die Uhr schaltete sie den Computer aus.

Es klopfte schmal, aber klar.

„Was brennt denn noch? Sie können reinkommen.“

Eine junge Blondine mit modischer Brille und einem Bündel Arbeit in der Armbeuge stöckelte herein, Bianca, die Sekretärin. Trotz ihrer kerzengeraden Haltung gab sie der Tür hinter sich mit dem Fuß einen sanften Schubs, wodurch diese bis auf einen Spalt schloss.

Dann fragte sie: „Kann ich Ihnen vielleicht einen aufgeschäumten Espresso machen, Frau Nortius?“

„Sehr nett, aber ich hatte schon ein Dutzend. Deswegen haben Sie doch nicht geklopft?“

„Nein, die Zeitung möchte Sie interviewen.“

„Schon wieder? Mir reicht noch das Interview nach dem Attentat. Und dieser andere Batzen da, der wie Waisenkinder in Ihrem Arm liegt?“

Schräg und steil verlagerte die Sekretärin den Stapel auf ihre Taille. „Die Baufirma kann die Minigolf-Anlage in dieser Saison nicht mehr fertigstellen und hat eine Fristverlängerung beantragt. Dafür will McDonald's die Filiale in unserem Gebäude vergrößern und die Wand zur Apotheke durchbrechen, die dann natürlich verkleinern müsste.“

„Wenn McDonald's expandieren möchte, dann muss auch die Medikamentenversorgung expandieren. Was noch? Weiter.“

„Ihr Mann hat angerufen.“

Kristin seufzte. „Weiter.“

„Die Besucherzahlen insgesamt sind zwar gestiegen, aber der Betreiber der Pole-Dancing-Bar steht vor dem Bankrott.“

„Wen wundert das? Er lässt Abend für Abend dasselbe Sortiment an Frauen turnen, die ihre blanken Achselhöhlen zeigen. Das kann ich mir mit jeder halbwegs flotten Kosmetikwerbung reinziehen. Als Mann würde ich auch überlegen, ob ich dafür noch 'ne Kröte locker mache. Unsere Gesellschaft feiert ihre Neuerungssucht und giert nach mehr, mehr, mehr.“

Mit nachtblauer Krawatte war inzwischen Marco eingetreten, Kristins rechte Hand. Er bestach durch eine akkurat gestylte Frisur, athletische Schultern und einem couragierten Lächeln. „Genau das ist die Philosophie. Wofür brauchst du mich noch?“

„Ach, für tausend Geschichten, wie du hörst. Ich hab heute leider gar keine Zeit mehr und muss schon gehen“, stand Kristin verlegen auf.

Die Sekretärin schritt beladen zur Seite.

„Kippen Sie ruhig alles auf meinen Schreibtisch. Marco, würdest du bitte den Stoß durcharbeiten? Ich möchte meine Entscheidungen mit dir besprechen.“

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