Einerseits verwöhnte er Tinchen, wie er seine Tochter gern nannte. Andererseits pushte er sie, bis sie jammerte. Kristin besuchte das Sportgymnasium, wo ein schüchterner und gleichwohl standfester Junge ihr bester Freund wurde, Ben. Weil sie ein herausragendes Tennistalent zeigte, engagierte ihr Vater zudem einen Personal Trainer. Doch die Teenagerin hatte keinen Bock, sich auch noch in den Sommerferien auf den Außenanlagen des HSCs anzustrengen. Lieber schleckte sie mit nackten Beinen Waffeleis und wartete darauf, dass der lateinamerikanische Tennislehrer sie mit sanfter Gewalt auf den Platz ziehen würde. Diese blöd-geilen Träumereien hielten sie zusätzlich von einem ernsthaften Flirt mit Ben ab. Und nichts folgte, außer dass ihr Vater wie ein rotköpfiger Drache die Backen blähte und den Rauch durch die Nase abließ.
Dabei liebte er selber Eiscreme, aber auch Spaghetti, Steak, Weißbier und bonbonweise Viagra. Seine Frau darbte in Selbstmitleid, weil er sie trotz zunehmender Anzugsgröße chronisch betrog.
Kristins Halbschwester, Lina, wurde 1999 in Rostock geboren. Ihre Mutter war eine alleinstehende Maßschneiderin, die sie mit schnörkelloser Herzensgüte zur Selbstständigkeit erzog. Dementsprechend zeichnete sich das hellhäutige Mädchen mit den brünettschwarzen Haaren durch Sensibilität und ein starkes Gerechtigkeitsempfinden aus. Lange wurde sie von ihrem Vater verleugnet, bis er sie endlich als uneheliche Tochter anerkannte. Schon aufgrund des Altersunterschieds konnte die Erstgeborene jedoch keine enge Bindung zu Lina aufbauen.
Der alte Nortius zwang sein erwachsen gewordenes Tinchen, BWL zu studieren. Als sie die Prüfung schaffte, betrank sie sich schwindelerregend. Im Lift lehnte sie breitbeinig gegen die Wand, pinkelte vor einer Quadrille gut aussehender Burschen ihre nicht mal runtergezogenen Nylons voll und knackste weg. Hinterher war ihr das so peinlich, dass sie nie mehr eine Party feierte. Rainer, damals noch als Assistenzarzt tätig, kurierte dafür mit verständnisvollen Händen und Äuglein ihren leichten Fußknöchelbruch.
Ebenso flog diese oder jene schicke Freundin auf Ben. Er hatte unlängst seine Stelle als Wachmann im HSC angetreten, und Kristin wurde Büromitarbeiterin in der Logistik.
Ihre Mutter, die ehemalige Schönheitskönigin, ließ sich dagegen verbittert scheiden und forderte eine Abfindung in Millionenhöhe. Kristin versicherte ihr, dass niemals eine unproduktive Bruthenne eine hysterischere Summe erstritten und sich mieser mit Kindern ausgekannt habe. Irgendwie hatte sie selber sich als Papas Prinzessin mehr von der Welt erhofft.
Genau vor 29 Monaten, Ende Februar 2018, zerriss das Attentat alle vorhersehbare Kontinuität.
Im HSC zog ein Deutscher unter seinem langen Anorak ein illegal beschafftes Sturmgewehr hervor und schoss auf drei Ausländer - einen vorbeilaufenden Afrikaner sowie zwei türkische Imbissverkäufer. Dabei brüllte der Mörder die verwirrenden Worte: „Gottverdammte Dekadenzpolitik!“ Doch es gab noch weitere Opfer.
Lina hatte gerade das beliebte Freizeit- und Einkaufszentrum zusammen mit ihrer Mutter betreten. Instinktiv schob sich dieselbe vor ihre schreckensstarre Tochter in die Schusslinie, sofern sich überhaupt von einer Linie reden lässt. Eine Kugel traf die Mutter tödlich in die Brust. Allerdings durchdrang das Kaliber vollständig den Körper und verwundete - abgeschwächt - auch noch Lina. Sie verlor das Bewusstsein. Das alles dauerte nur wenige Sekunden.
Beeinträchtigt durch die panischen Menschenmenge, zielte Ben seinerseits und drückte den Abzug. Ein Schwall Blut fegte aus der Schulter des blindwütigen Täters. Wankend feuerte er weiter, ließ Kinder ebenso wie Ältere unter Streifschüssen aufschreien und zerfetzte das Knie des Wachmanns, der zu Boden fiel. Dennoch hielt Ben seine Pistole fest umklammert. Er stützte sich auf, zielte noch einmal und knallte dem Attentäter nun die Visage weg. Fünf Tote und elf Verletzte.
Und wie immer lauteten die Fragen: Warum? Hätte man das nicht verhindern können?
Bei dem Attentäter handelte es sich um einen öligen Fischbrötchenhändler. Er hatte für seinen Stand im HSC nur einen hinteren Platz bekommen und nicht mit dem vorderen Döner Palast konkurrieren können, geschweige denn mit McDonalds. Irgendeinem Netzwerk gehörte er nicht an. Er hatte nur gerne vom alten Sozialismus geschwärmt und Litaneien vom Stapel gelassen wie: „Das Pack sollte man grillen, bis es noch schwärzer wird.“ Aber das fand niemand seiner wenigen Bekannten besonders auffällig. Ja, man versicherte bestürzt, dass sein Vater sogar ein guter Pastor gewesen sei.
Der Stress unter den hereinbrechenden Reportern, Sanitätern, Kriminalbeamten und Aufgaben in der Chefetage des HSCs war gewaltig. Der Imageschaden riss die Aktienkurse in den Abgrund. Innerhalb von einer Woche starb das italoamerikanische, hohe Tier an einem Herzinfarkt.
Kristin erbte sein gesamtes Unternehmen. Zu allem hin erkrankte ihre Mutter an Alzheimer, und weil die Tochter selber nicht mehr wusste, wo ihr der Kopf stand, schob sie die Alte ins Pflegeheim ab.
Vor Überforderung heulte Kristin. Deshalb stellte sie einen ehrgeizigen, spritzigen Marketingspezialisten ein - Marco. Die beiden verstanden sich auf den ersten Blick. Dank manipulativer Werbekampagnen und punktuell hübscher Innovationen gewann das HSC wieder Oberwasser.
In der Zwischenzeit kämpfte sich Ben durch eine medizinische Reha. Seine Freundin trennte sich in den dunkelsten Stunden von ihm und machte eine Reise in die hellsten Länder der Welt. Bei ihm blieb die Gewissensqual, ob er nicht schneller hätte reagieren können.
Er bekam psychologische Betreuung, doch ohne Erfolg. Noch immer war er nicht mal in der Lage, einen vollen Lidl oder Rewe zu betreten. Insofern sich die Enttäuschung über das Therapieprozedere wie ein stachliger Igel in Ben einnistete, steigerte sich sein Trauma sogar. Er hielt die Psychiaterin für eine zwar nette, aber überkandidelte Schlunze. Umso mehr verwunderte es ihn, als er später hörte, dass sie an die renommierte Universitätsklinik wechselte.
Und Lina? Sowie die Ärzte das stecken gebliebene Projektil aus ihren Rippen gezogen hatten, wurde sie mit einer Psychose ins Zentrum für Nervenkranke überwiesen. Ben wusste nicht so recht, was er sich darunter vorstellen sollte. Sie musste jetzt 21 Jahre alt sein. Das arme, reizende Mädchen hatte im zweiten Semester Geschichte studiert.
Wieder und immer wieder sah er sie bespritzt mit fremdem Blut unter dem Donnerhall des Angriffs ihr Bewusstsein verlieren.
3. Kapitel
Aufbruch zu Lina
Er schreckte aus Alpträumen hoch. Die kantigen Leuchtziffern auf seinem Smartphone zeigten 5:50 Uhr. Durchatmend versuchte sich Ben wieder in den Schlaf zu meditieren, aber er konnte die Unruhe nicht mehr eindämmen und stand auf.
Er machte Klimmzüge und einarmige Liegestützen mit rechts, einarmige Liegestützen mit links, beidarmige Liegestützen und noch einmal Klimmzüge und noch ein Mal. Ruhiger ging er ins Bad.
In der Küche brühte er Kräutertee auf und maß eine Menge Müsli mit kleingeschnittenen Früchten ab, damit er nicht an Körpergewicht verlor. Von Zeitungen und Online-Nachrichten wollte er nichts wissen. Er schabte mit dem Löffel den Rest aufgequollener Haferflocken zusammen, aß, wartete und ging endlich die Treppe runter zu diesem absurden Lamborghini.
Das Sonnenlicht prallte ihm von der glitzernden Motorhaube entgegen. Würde Lina sich freuen, ihn wiederzusehen? Freute er sich? Nervös fuhr er los.
Selbstverständlich befand sie sich nicht auf der Geschlossenen, und zugleich konnte man die ganze Psychiatrie keineswegs als öffentlichen Ort bezeichnen. So oder so blieb auch dieser Komplex der Unimedizin Rostock aber ein vertracktes Menschengebilde.
Immerhin fand Ben auf der Anlage schnell einen Parkplatz. Bei einzelnen grüßenden Menschen war er sich nicht sicher, ob es sich um einen Patienten, Personal oder Besucher handelte. Endlich entdeckte er die ausgeschilderte Station, riss sich zusammen und trat ein.
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