Seelsorge kann so zu einem Prozess politischer Bildung werden und gesellschaftspolitische Verantwortung fördern. Die damit verbundenen Auseinandersetzungen wiederum werden zum (demokratischen) Lernort für Geflüchtete, die in der Regel aus autoritären Regimen kommen. Sie könn(t)en zu Vermittler/innen zwischen Europa und den Fluchtregionen werdenwenn der politische Diskurs in Europa mit seinen rassistischen Misstönen nicht stört(e).
MIGRATIONSTHEOLOGISCHE NARRATIVE
Christliche Seelsorge braucht zur theologischen Orientierung nicht zuletzt auch Narrative: Erzählungen und Deutungen, die den aktuellen Ereignissen Sinn abringen - andere als die derzeit dominanten von „Überfremdung“, „Islamisierung“ oder vom „Untergang des christlichen Abendlandes“.
Die biblische Tradition birgt dafür alle erforderlichen Ingredienzen (vgl. Polak, Band 1, 107-124). Denn der ethische Monotheismus des Juden- wie des Christentums wurde maßgeblich im Kontext von Flucht, Vertreibung und Migration, Exil und Diaspora erlernt. Katastrophische Erfahrungendie Flucht aus dem Sklavenhaus Ägypten, die Deportation nach Babylon und das Exilwurden zu den zentralen religiösen, ethischen und politischen Lernorten. Die dabei entstandene Theologie der Migration war auch für die Gemeinden des Neuen Testaments eine Matrix, das gefährliche Leben im Imperium Romanum zu ver- und zu bestehen.
Ebendies wäre auch heute die unabdingbare Aufgabe: den Ereignissen und Erfahrungen im Kontext von Flucht Sinn abzuringen. Auch Historiker benennen die Notwendigkeit differenzierten Wissens und hochentwickelter Deutungssysteme zur Neugestaltung von Migrationsgesellschaften: „Ohne eine solche Abstraktionsebene, die es erlaubt, ein gesellschaftliches Phänomen als Ganzes zu verstehen, ist nachhaltige Problemlösung nicht möglich“ ( Pohl, 43).
Mit der Heiligen Schrift verfügen wir über solche Narrative: migrationstheologische Deutungen, die erzählen, dass Gott die Geschichte der Befreiung und Erlösung der Menschheit maßgeblich mithilfe von Nomaden, Flüchtlingen, Fremdarbeitern, Exilierten, im Imperium Romanum politisch Verfolgten bzw. in der Diaspora als „Gäste und Fremde“ Lebenden (Hebr 11,13; 1 Petr 2,11) vorangetrieben hat. Diese Erinnerungen haben in der Seelsorge unterschiedliche Konsequenzen. Während sich Menschen auf der Flucht in besonderer Weise der Treue Gottes versichert wissen dürfen, muss sich Europa – verstanden als technischökonomischer Machtblock – wohl eher auf der Seite Ägyptens, Babylons und des Römischen Reiches wiederfinden. Zuspruch und Anspruch, Trost und Anforderungen gibt es für beide. Diasporagemeinden werden aufgefordert, sich um das Wohl der Stadt zu kümmern (Jer 29,7). Aber auch Ägypten kann zum Ort der Rettung und Befreiung werden (vgl. Söding, 343–354): Das „Flüchtlingskind“ Jesus von Nazareth wurde in Ägypten gerettet. Seelsorge mit Schutzsuchenden kann zum Ort der Erinnerung werden, dass Wohlstand und Macht Europa verpflichten, Schutzsuchende aufzunehmen, von und mit ihnen zu lernen und die Ursachen der Flucht zu bekämpfen.
LITERATUR
Flusser, Vilém,Die Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus, Berlin 2000 (1990).
Nauer, Doris,Seelsorge. Sorge um die Seele, Stuttgart 32014.
Pohl, Walter,Die Entstehung des europäischen Weges: Migration als Wiege Europas, in: Österreichische Forschungsgemeinschaft (Hg.), Migration. Bd 15, Wien/Köln/Weimar 2013, 27–44.
Polak, Regina,Leben und Lernen von und mit Flüchtlingen, URL: http://thirdmission.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/i_thirdmission/Template_Leben_und_Lernen_von_und_mit_Fluechtlingen_Polak.pdf. (Abruf: 14.02.2018).
Dies.,Migration, Flucht und Religion. Praktisch-Theologische Beiträge. Band 1: Grundlagen, Band 2: Durchführungen und Konsequenzen, Ostfildern 2017.
Söding, Thomas,Das Refugium des Messias. Die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten, in: IKaZ Communio 4 (2015) 343–354.
Das gesellschaftliche Aushandeln von Migration – und seine Grenzen
Einseitige Positionierungen und Polarisierungen beherrschen das Reden und Schreiben über das soziale Phänomen Migration: Die einen verstehen unter Migration das Ergebnis von Krisen, Katastrophen und Defiziten – und ihre Folgen als Gefahr für Sicherheit, Wohlstand, gesellschaftliche und kulturelle Homogenität. Migration erscheint damit als Risiko, das dringend der intensiven politischen Vor- und Nachsorge bedarf. Die anderen wiederum sehen vornehmlich Potentiale für die Entwicklung des Arbeitsmarkts sowie Perspektiven für ökonomische, soziale und kulturelle Innovationen – im Zielland wie im Herkunftsland der Bewegungen. Jochen Oltmer
Migration ist weder grundsätzlich gut noch schlecht. Wie für jedes soziale Phänomen können die Hintergründe, Bedingungen, Folgen und Effekte von Migration sehr unterschiedlich verstanden werden. Dabei erweisen sich die Wahrnehmungen und Zuordnungen keineswegs als stabil. Jede Gesellschaft handelt vielmehr unter Beteiligung zahlreicher unterschiedlicher Akteure fortwährend neu aus, wer unter potentiellen Zuwanderinnen und Zuwanderern als nützlich gilt und deshalb mit einer gewissen Offenheit rechnen kann, wer zugehörig ist oder wem wenigstens ein Naheverhältnis zugebilligt wird, wen sie als hilfs- und damit als schutzbedürftig wahrnimmt.
Solche Aushandlungen münden in rechtliche Regelungen, Gesetze, den Auf-, Ab- oder Umbau von Organisationen -Normen und Strukturen, die wiederum den Rahmen bilden für neues Aushandeln über Homogenität oder Heterogenität, Differenz oder Gleichheit, Nähe oder Distanz.
Seit drei, vier Jahren bewegt sich die bundesdeutsche Gesellschaft in einer Phase beschleunigten Aushandelns von Migration. Neu daran ist nicht das Aushandeln selbst, sondern die hohe Zahl der beteiligten Akteure aus Politik, Ökonomie, Medien und Zivilgesellschaft und damit auch das Ausmaß der Unübersichtlichkeit der Positionierungen und Polarisierungen. Wissenschaftlich bedeuten solche Aushandlungen eine enorme Herausforderung. Es erweist sich als ausgesprochen komplex, ihre Dynamik zu verstehen und beispielsweise zu erklären, warum in der einen Gesellschaft eine Tendenz zur Schließung gegenüber Zuwanderung auszumachen ist, in einer anderen aber zeitgleich eine Perspektive der Öffnung.
Warum war in der Bundesrepublik bis in den Herbst 2015 hinein die Bereitschaft relativ hoch, Menschen aus Syrien als Schutzsuchende zu verstehen? Warum erwies sie sich in Frankreich, Polen oder Großbritannien als weitaus niedriger? Warum sind die Chancen auf die Zubilligung eines Schutzstatus in Bayern anders als im Saarland oder in Sachsen – obgleich ein einheitlicher Rechtsrahmen herrscht? Wer wird warum als „echter“ Flüchtling eingeordnet, wer hingegen aus welchen Gründen und mit welchen Begründungen als „Wirtschaftsflüchtling“?
Jochen Oltmer
Dr. phil. habil., Apl. Professor für Migrationsgeschichte und Mitglied des Vorstands des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück.
HERMETISCHE DEBATTE
Die Intensität der gesellschaftlichen Aushandlung über Migration verspricht in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa auch in den kommenden Jahren nicht nachzulassen. Zu fragen ist allerdings, ob die Voraussetzungen gegeben sind, die Debatten in Zukunft sachhaltiger zu führen. Auffällig ist, dass die Diskussionen der vergangenen Jahre in vielerlei Hinsicht ausgesprochen hermetisch blieben, das heißt: Gesprochen und geschrieben wurde vor allem über Bewegungen nach Deutschland und über Fragen der Niederlassung von Zugewanderten in Deutschland. Informationen über Migrationsbewegungen und ihre Folgen, die nicht unmittelbar Deutschland betrafen, waren ausgesprochen dünn gesät. Man könnte also davon sprechen, die deutsche Debatte sei weltvergessen geführt worden.
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