Regina Polak
Mag. phil. Mag. theol. Dr. theol., seit 2013 Associate Professor am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
„MULTIDIMENSIONALE SEELSORGE”
Nach Doris Nauer bedeutet Seelsorge, „sich (professionell) um den ganzen, komplexen, ambivalenten, gottgewollten Menschen“ zu sorgen, auf dass „ein wenig ‚Leben in Fülle (Joh 10,10)‘ erfahrbar wird, und dies „sowohl in Alltags-, als auch in Glücks- und Krisenzeiten, abhängig von der individuellen und kollektiven Lebenssituation und Bedürfnislage sowie in und trotz Krankheit, Behinderung, Gebrechlichkeit, Siechtum, Todesangst, Einsamkeit, Verzweiflung, Leid, Not, Armut, Hoffnungslosigkeit, Fragmentarität, Arbeitsüberlastung“ ( Nauer, 264). Im Kontext von Zwangsmigrationen werden diese Dimensionen in besonderer Weise virulent.
Entlang der drei Dimensionen dieses Seelsorge-Konzepts (alle Zitate nach Nauer, 184–286) reflektiere ich im Folgenden exemplarische Erfahrungen aus der Seelsorge für und mit Schutzsuchenden.
Die pastoralpsychologisch-heilsame Dimension Diese wird nach Nauer konkret in Krisen- und Konflikthilfe, in ethischer Orientierungshilfe, in Begegnung, Begleitung und Konfrontation, in Beratung und Betreuung, in der Ermöglichung heilsamer Erfahrungen, durch „Impulse zur Sinnfindung“, mit dem Ziel, die „Subjektwerdung und Identitätsausbildung“ zu unterstützen und der Aufgabe, „Fremde fremd bzw. anders sein zu lassen“.
Im Alltag mit schutzsuchenden Menschen ist diese psycho-sozial orientierte Seelsorge die zunächst augenscheinlichste. Um größtmöglicher Professionalität willen bedarf sie der institutionellen Unterstützung durch (politische und kirchliche) Gemeinde und Diözese, durch Angebote zur Krisenintervention, Supervision, Therapie - auch für die Begleiter/innen. Der Seelsorge im christlichen Verständnis eignet dabei eine besondere Möglichkeit: das Angebot der Freundschaft. Freund/innen im Aufnahmeland zu haben, kann Schutzsuchende ihre Würde wieder erfahren lassen und bietet eine besondere Art des Schutzes. Die Bande, die dabei entstehen, sehen die österreichischen Behörden derzeit allerdings gar nicht gerndenn sie sensibilisieren viele Begleiter/innen für politische Zusammenhänge und wecken Widerstand gegen als ungerecht und unrecht erlebte Asylpolitik. Wohl nicht zuletzt deshalb sollen nach dem Wunsch des österreichischen Innenministers Herbert Kickl Flüchtlinge „konzentriert“ in Grundversorgungszentren untergebracht werden.
Im Raum der christlichen Institution der Freundschaft verändert sich auch die Wahrnehmung von schutzsuchenden Menschen. Begleiter/innen lernen, dass ein Mensch „mehr“ ist als seine Fluchtgeschichte oder sein Trauma. Mit dem Blick der Freundschaft lässt sich erkennen, welch unglaubliche Kompetenzen ein geflüchteter Mensch hat und haben muss, um zu überleben. Denn jede Flucht ist immer auch ein Ausdruck einer Entscheidung zur Freiheit: ein Mensch hat sein Leben der Bedrohung durch den Tod entrissen. Dies ist eine große Ressource, die in der Seelsorge fruchtbar gemacht werden kann, um der stets drohenden Verzweiflung zu wehren und Autonomie, psychische Gesundheit und spirituelles Wachstum zu fördern.
Viele Schutzsuchende, vor allem unbegleitete Minderjährige, sind seelisch allerdings oft schwer verstört. Das Vertrauen in andere Menschen, die Bedürfnisse nach Schutz, Geborgenheit und Zugehörigkeit sind massiv verletzt. Die Lebensenergie, die viele mitbringen, lässt das oft übersehen. Traumata können sich jedoch nachhaltig auswirken. Migrant/innen leiden überdurchschnittlich häufig an chronischen psychischen und physischen Erkrankungen – und geben ihre seelischen Belastungen nicht selten über Generationen hinweg weiter. Seelsorger/innen können und müssen in dieser Frage gesellschaftspolitisches Bewusstsein schaffen und Maßnahmen einfordern.
Die spirituell-mystagogische Dimension Diese wird nach Nauer u. a. konkret in der „Eröffnung von spirituellen Räumen“, in der Hilfe beim Glauben lernen („Glaubenshilfe“), in „(Selbst)Evangelisierung und Mission“, im gemeinsamen „Aufspüren von Gottes Spuren“ im Leben und in der Wirklichkeit, im „Verweben von Lebens- und Glaubensgeschichte“, in der „Entmächtigung von dämonischen Mächten und Gewalten“, in der „Verbreitung von Hoffnung und Freude“, in der „Vergebung von Sünde und Schuld“, in „Trost und der Akzeptanz von Trostgrenzen“.
Die Begegnung mit traumatisierten Menschen, mit Menschen, die ohne Asylbewilligung in unerträglicher Schwebe leben oder – wie derzeit in Österreich und Deutschland politisch forciert – abgeschoben werden, stellen alle Beteiligten vor oft unerträgliche Herausforderungen. Schutzsuchende Menschen werden von Ohnmacht und Ängsten überschwemmt; Begleiter/innen haben Angst um die ihnen Anvertrauten und fühlen sich hilflos. Dies ist auch eine spirituelle Herausforderung.
In solchen Grenz-Erfahrungen kann die Theologie des Kreuzes wieder virulent werden: nicht zur Förderung von Schicksalsergebenheit, die sich Traumatisierte und von Rückführung Betroffene gar nicht leisten können. Das Kreuz vertröstet nicht, sondern kann ermutigen und helfen, gebildete Hoffnung zu entwickeln. Eine biblisch begründete Hoffnung ist kein Optimismus, der Lebenskatastrophen behübscht. Als geistige Orientierung kann sie jedoch unterstützen, auch in Krisenzeiten die Orientierung an Gott nicht zu verlieren.
Der damit verbundene Lernprozess umfasst auch das Hadern und Streiten mit Gott und die Klage. Klage-Liturgien können solch dramatischen Erfahrungen einen Ort geben. Sie benennen Leid, Angst und Ohnmacht und können dadurch Resilienz stärken und Kraft geben, den Kampf um das eigene Leben und das Leben des Anderen nicht aufzugeben. Immer wieder haben die in meinem Projekt befragten Begleiter/innen von der Hoffnung und dem Lebenswillen erzählt, auf die sie bei schutzsuchenden Menschen gestoßen sind. Wer betreibt in solchen Begegnungen für wen Seelsorge?
Freilich gibt es auch Schutzsuchende, denen jeder Lebensmut verloren gegangen ist. Überdies ist die Option einer Theologie des Kreuzes oder des Haderns mit Gott in der Begegnung mit Muslim/innen ungeeignet. Hier kann die christliche Tradition des stellvertretenden Fürbittgebetes unterstützen: als Ausdruck zwischenmenschlicher Solidarität bringt es in Situationen, wo nichts mehr getan werden kann, zum Ausdruck, dass das Füreinander-Einstehen nicht zu Ende gehen muss, wenn Ohnmacht, Recht und Politik Grenzen setzen.
Die diakonisch-prophetische Dimension Diese wird konkret durch „materielle (Über) Lebenshilfe“, die „Förderung sozialer Vernetzung“, die „Ermöglichung von Gemeindeerfahrungen“, aber auch im „solidarischen und advokatorischen Engagement vor Ort“ und nicht zuletzt im „Risiko, sich auf Prozesse der Gesellschaftsgestaltung“ einzulassen.
Die Vielzahl der kirchlichen Gruppen und Gemeinschaften, die sich rund um Schutzsuchende gebildet haben, sind für alle Beteiligten ausgezeichnetes „Gegengift“ gegen Ohnmacht und Angst. Viele Muslim/innen waren beeindruckt, wie selbstlos die angeblich „Ungläubigen“ ihnen helfen. Gemeinden und Orden wuchsen und entwickelten sich weiter durch Menschen, die seit Jahren keinen Kontakt zur Kirche hatten und helfen wollten. Katechumenate mit Konvertit/innen förderten Gemeindebildungsprozesse. Mit der Diakonie befinden sich viele Christ/innen seelsorglich im ureigensten Element.
Demgegenüber ist die prophetische Dimension in der Alltagspraxis etwas unterbelichtet - und damit auch das gesellschaftspolitische Engagement. (In Deutschland nimmt dieses die Deutsche Bischofskonferenz in herausragender Weise wahr). In diesem Feld wird die seelsorgliche Wirkung der Schutzsuchenden auf die Begleiter/innen besonders deutlich: Viele entdecken die politische Dimension des Glaubens auf neue Weise wieder. Sie werden zu Vermittler/innen und Brückenbildner/innen in der Nachbarschaft, indem sie Räume der Begegnung öffnen, zwischen Menschen verschiedener Kulturen übersetzen und Lernprozesse initiieren. Sie entdecken die Macht und manchmal die Widersinnigkeit der Bürokratien und werden Expert/innen im Asylrecht. Sie beschäftigen sich mit der Geschichte der Herkunftsländer und werden globalpolitisch sensibilisiert. Sie entdecken die Verantwortung Europas.
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