Das nächste Kaff hieß St. Mihiel. Appaz hatte keine Lust mehr weiterzufahren. Und Kerschkamp und Ratte wollten unbedingt was essen.
»Aber richtig«, erklärte Ratte. »Restaurant oder so.«
Es war inzwischen nach acht. Und jeder Laden war verrammelt. Das einzige Restaurant gehörte zum Hotel Central. Auf dem Parkplatz stand ein einsamer R4.
»He, ich weiß was, Leute«, sagte Kerschkamp. »Wir spachteln erst mal richtig und kaufen uns ein paar Pullen Wein und dann nehmen wir uns ein Zimmer oder so, wär doch spitze, oder?«
Er blickte nach hinten.
»Ich dachte, wir wollten Camping machen …«, sagte Lepcke.
»Siehst du hier irgendwo einen Campingplatz?«, fragte Kerschkamp. »Oder willst du das Zelt auf dem Parkplatz aufstellen oder was?«
»Vergiss es«, sagte Ratte. »Die Idee ist geil. Wir gehen voll ins Hotel.«
»Und der Bus?«, fragte Appaz.
»Ich bleibe hier«, ließ sich der Ami vernehmen. »Ich hab sowieso keine Lust, was zu essen.«
Appaz guckte Kerschkamp an.
Kerschkamp zuckte mit der Schulter.
»Los, Leute«, sagte Ratte und stiefelte mit seiner Reisetasche zum Hoteleingang rüber.
Appaz gab dem Ami die Autoschlüssel.
»Wenn du pinkeln musst, kannst du ja zu uns ins Zimmer kommen«, sagte Lepcke.
»Oder zum Frühstück«, sagte Appaz.
Der Ami wühlte wortlos seinen Schlafsack aus dem Gepäck. Irgendwie war es Appaz ganz lieb, dass er nicht mitkam. Ohne dass er genau sagen konnte, weshalb eigentlich.
Der Gastraum war genauso leer wie der Parkplatz. Und wer immer zu dem R4 gehörte, saß jedenfalls auch nicht an der Theke.
»Vielleicht der Koch«, meinte Kerschkamp. »Könnte doch sein …«
Eine Frau kam aus der Küche geschlurft. Mit einer Kittelschürze, die nur halb zugeknöpft war. Die Frau war zu fett. Die Träger ihres Büstenhalters schnitten tief ins Fleisch.
»Du redest«, sagte Kerschkamp und verpasste Lepcke einen Rippenstoß.
»Wollen wir nicht lieber …«, setzte Lepcke an.
»Quatsch«, unterbrach ihn Kerschkamp sofort, »frag erst mal, was ein Zimmer kostet.«
»Und ob wir überhaupt noch was zu essen kriegen in dem Schuppen hier«, sagte Ratte.
Lepcke stotterte ein paar Sätze vor sich hin. Appaz verstand so gut wie gar nichts. Aber er war auch der Einzige von ihnen, der Latein hatte statt Französisch. Die drei Jahre Wahlunterricht in der nullten Stunde bei Kosarchew zählten eher nicht. Zumal Korsarchew ihn grundsätzlich mit einer Fünf bedacht hatte. Was vielleicht auch nicht ganz ungerechtfertigt gewesen war.
Die Frau schien ebenfalls kaum etwas von Lepckes Stotterei zu verstehen. Allerdings hatte Lepcke auch die Angewohnheit, die Zähne beim Reden nicht auseinanderzukriegen. Zumindest wenn er aufgeregt war.
»Une chambre«, erklärte Ratte und hielt einen Finger hoch.
»Pour une nuit«, sagte Kerschkamp und hielt ebenfalls einen Finger in die Höhe.
Die Frau fragte irgendwas.
»Klar für uns, für wen sonst?«, erwiderte Kerschkamp und nickte.
»Pour quatre personnes …« Er zeigte erst vier Finger und dann noch mal auf jeden von ihnen.
Die Frau musterte sie.
»Jetzt überlegt sie, ob wir schwul sind«, stellte Ratte fest.
»Combien?«, fragte Kerschkamp und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, um klarzumachen, dass er wissen wollte, wie viel das Zimmer kostete.
»Dreißig«, sagte die Frau und langte hinter sich zum Schlüsselbrett. Knallte einen Schlüssel auf den Tresen und sagte: »Wenn Sie noch was essen wollen, kann ich Ihnen Steak frites anbieten. Avec d’haricots verts.«
»Die … die redet ja deutsch …«, stotterte Ratte verblüfft.
»Ist ja irre«, sagte Kerschkamp.
»Selbstverständlich«, sagte die Frau.
Appaz bestellte viermal Steak frites.
»Und irgendwas zum Nachtisch«, sagte Ratte.
Das Zimmer war riesig und roch nach ungelüfteten Betten. Kerschkamp stieß die Fensterläden auf.
Unter einem Ölbild mit irgendeiner Blumenwiese stand ein Doppelbett. Und an der Wand eine Klappliege.
»Das sind aber nur drei Betten«, stellte Lepcke fest.
»Mann, bist du blöd?«, regte sich Ratte auf. »Für dreißig Franc, Alter, überleg mal! Ist doch geil!«
Er warf sich quer über das Doppelbett.
»Und außerdem kann einer auf dem Fußboden schlafen, sind ja genug Decken da …«
»Ich nicht«, sagte Lepcke, »ich nehme die Liege.«
Kerschkamp verschwand auf dem Flur. Als er zurückkam, sagte er: »Das Klo ist okay.«
»Hä?«, machte Ratte. »Und was ist das da?«
Er zeigte auf das Bidet, das neben dem Waschbecken stand.
»Zum Arsch abspülen«, sagte Kerschkamp. »Das ist in Frankreich so.«
»Echt?«, fragte Ratte und drehte den Wasserhahn auf. »Ist ja irre …«
Ratte zog den Reißverschluss seiner Jeans auf. Er grinste und pinkelte in das Bidet.
»Du bist eine Sau«, sagte Lepcke.
Kerschkamp drehte sich zu Appaz.
»Willst du im Bett schlafen?«, fragte er. »Dann geh ich auf den Fußboden …«
»Vergesst es«, sagte Ratte, während er die letzten Tropfen abschüttelte und seinen Schwanz wieder in der Hose verstaute, »ich penne auf dem Fußboden. Ich leg mich doch nicht mit einem von euch ins Bett und lass mich angrabbeln, nee, Leute, nicht mit mir!«
»Haha«, machte Kerschkamp.
Als sie in den Gastraum zurückkamen, wartete die fette Frau schon auf sie. Aus der Küche drang der Geruch nach gebratenem Fleisch und altem Öl. Dennoch waren die Pommes dann das einzig Genießbare, die Steaks waren zäh wie Leder, und die Bohnen faserig und kaum weniger hart.
Sie tranken Rotwein aus der verschmierten Karaffe, die die Frau ihnen auf den Tisch gestellt hatte, zusammen mit einer angestoßenen Platte, auf der ein Camembert zerlief und ein paar einsame Salamischeiben vor sich hin schwitzten.
Ratte verlangte mehr »pain«. Als die Karaffe leer war, brachte ihnen die Frau wortlos eine neue.
Appaz merkte, wie ihm der Wein in den Kopf stieg.
Ratte rülpste und lehnte sich zurück. Aus dem Radio hinter der Theke dröhnte Gilbert Becaud. Monsieur hunderttausend Volt.
»Scheißmusik«, meinte Kerschkamp und angelte sich die Reste von Lepckes Steak. »Scheißfraß.«
»Sollen wir dem Ami vielleicht was raus bringen?«, fragte Lepcke.
»Quatsch«, meinte Kerschkamp mit vollem Mund, während er sich die letzten Pommes auf den Teller schaufelte.
»Eine Tüte wäre geil jetzt«, stellte Ratte fest. »Morgen müssen wir echt sehen, wo wir was kriegen …«
Auf dem Weg ins Zimmer hatte Lepcke deutlich Mühe, die Treppenstufen nicht zu verfehlen. Ratte haute sich auf den Boden, schob sich seinen Parka unter den Kopf und furzte.
Draußen wurde ein Auto angelassen. Wahrscheinlich der R4. Appaz starrte ins Dunkel, bis das Licht der Scheinwerfer über die Tapete huschte. Irgendwo betätigte jemand die Klospülung. Dann war alles still.
»Nacht«, sagte Kerschkamp.
»Nacht«, sagte Appaz.
Ratte schnarchte. Und Lepcke knirschte im Schlaf mit den Zähnen. Die Bettdecke roch nach Mottenpulver.
Nach einer Weile fing Kerschkamp an zu wichsen. Erst nur ganz vorsichtig, aber dann immer schneller.
Appaz drehte sich zur Seite.
Kerschkamp wartete einen Moment, dann erledigte er den Rest. Als er kam, knackte er mit den Zehen. Appaz wurde wach, weil ihm die Sonne ins Gesicht schien. Unten auf dem Platz dröhnte ein Mülllaster. Eine Männerstimme rief etwas auf Französisch.
Ratte hockte auf dem Bidet. Als er sah, dass Appaz wach war, grinste er.
»Geil, so’n Bidet.«
Er drehte den Hahn auf und wischte sich mit der Hand den Hintern ab. Stand auf und zog seine Jeans hoch.
»Du bist eine solche Sau«, ließ sich Lepcke von seiner Liege vernehmen.
»Gut geschlafen?«, fragte Appaz.
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