»Tschuldigung, dass ich lebe, du hast ja heute eine Stimmung!«
»Welcher Stadtteil?«
»Pasing.«
»Dann scheidet sie wohl als mögliches Opfer aus. Die wird zu irgendeinem Typen nach der Party gefahren sein, aber kaum in eine Kleingartensiedlung am anderen Ende der Stadt. Zweite Vermisstenanzeige?« Tischler war ungeduldig. Sie wollte keine Zeit mit unnützem Geplänkel vergeuden und sie kannte Mangel, der sich gern in abstruse Theorien verwickelte oder sich in Nebensächlichkeiten verbiss.
»Manfred Jordan.«
»Ist hoffentlich letzte Nacht nicht über selbigen gegangen.«
»Was meinst du?«, fragte Mangel nach.
»Nichts. Nur ein Späßchen am Rande. Mach weiter, Ralf«, entgegnete Tischler in versöhnlichem Ton.
»Also, Manfred Jordan, wohnhaft in Berg am Laim.«
»Schau an. Das könnte unser Mann sein.«
»Möglich. Er ist allerdings aus dem Seniorenheim Sankt Michael ausgebüxt.«
»Oh«, bemerkte Tischler, »dement oder hat er die Feinschmeckerküche im Altersheim nicht mehr ausgehalten?«
»Hochgradig dement, aber ich glaube nicht, dass die schlecht kochen. Das sind die Barmherzigen Schwestern«
»Ist in Ordnung, Ralf. Du musst nicht alle katholischen Einrichtungen verteidigen. Wo liegt das Altersheim?«
»Da fällst du von der Kleingartensiedlung zweimal um, dann bist du dort«, erklärte Mangel.
»Wie alt ist Jordan?«
»Sechsundachtzig Lenze.«
»Ralf, hast du heute deinen poetischen? Was kommt als nächstes? Er feierte sein sechsundachtzigstes Wiegenfest?«
»Jaja, mach dich nur immer über mich lustig«, gab Mangel beleidigt zurück. »Ich will halt nicht immer dieselben abgegriffenen Wörter benutzen.«
»Kritik akzeptiert. Soll nicht wieder vorkommen – bis zum nächsten Mal. Aber sag mal, wenn der Knabe sechsundachtzig ist, dann kann ich mir schwerlich vorstellen, dass er mit Kemal in eine Schlägerei verwickelt war«, meinte Tischler skeptisch. Mangel aber grinste wissend.
»Deinem Gesichtsausdruck zufolge siehst du das anders, Ralf, stimmts?«
»Aber freilich. Schau mal, der …«
»Lass mich raten«, unterbrach ihn Tischler und hob die Hand als Bitte, sie brauche noch ein wenig Zeit. »Jordan ist Mitglied einer Bande von Alt-Nazis, die in Sankt Michael einen eingeschworenen Zirkel bilden. Alles alte SS-ler und Hitler-Jungen, die für den Führer heute noch in den Tod gingen. Jordan ist wegen seiner Demenz jedoch ein Problemfall. Denn er weiß zu viel und ist schon debil genug, auch geheimste Geheimnisse auszuplaudern. Also verfolgt man den Flüchtigen und stellt ihn. Leider kommt gerade ein kickboxender Türke, dem man eins aufs Maul geben möchte, aber anständig Prügel bezieht. Bei der ganzen Schlägerei kommt Jordan allerdings zu Tode und seine Waffenbrüder verscharren irgendwo die Leiche.«
»Du hast ja eine blühende Phantasie.« Mangel klatschte Beifall, während Tischler aufstand und sich verbeugte.
»Danke, aber ich kenne dich zu lange, als dass dein Ideenreichtum nicht auf mich abfärben würde.«
»Und wie erklärst du dir in deiner Theorie den Goldstaub auf der Autotür?«, hakte Mangel nach.
»Jordan ist mit einer Goldreliquie, was weiß ich, dem Goldnapf von Hitlers Schäferhund Blondi oder einem seltenen Goldorden ausgebüxt, den die alten SS-Männer unbedingt wiederhaben wollten. Die Reliquie war gewissermaßen ihr Baal, ihr Totem, das sie anbeteten.«
»Deine Geschichte wird immer besser. Ich würde sagen, wir führen einen dieser Entnazifizierungstests aus der Nachkriegszeit durch und schauen mal, ob wir ein paar mittlere Fische ins Netz bekommen.«
»Genau das machen wir. Wir sind schließlich Beamte und dürfen legal unsere Arbeitszeit verblödeln. Im Ernst, mir scheint die Jordan-Spur kalt wie eine Huskieschnauze im Dezember.«
»Mir nicht«, hielt Mangel dagegen. »Ich glaube, dass Jordan bei seinem Streifzug etwas gesehen hat, was er besser nicht gesehen hätte. Einen Raub oder eine Vergewaltigung oder so etwas.« Erwartungsvoll blickte er seine Chefin an.
»Möglich. Mach weiter.«
»Der oder die Täter gehen auf Jordan los und bringen ihn um. Just in dem Moment taucht Kemal auf und mischt sich ein. Er kämpft mit dem Mörder und schlägt ihn vielleicht sogar in die Flucht, verliert dabei aber seine Geldbörse.«
»So weit, so gut. Aber jetzt musst du den Goldstaub erklären.«
»Dann schließen wir die Vergewaltigung aus und beschränken uns auf den Raub. Unser Täter hat etwas Goldenes gestohlen, allerdings nicht den Goldnapf von Blondi. Und schon funktioniert die Geschichte. Und sie ist ausnahmsweise etwas glaubwürdiger als deine Verschwörungstheorie mit den Alt-Nazis.«
»Wirklich? Dabei habe ich dir noch nicht von meiner Vermutung erzählt, dass Hitler im April 1945 von Außerirdischen entführt und als Manfred Jordan ins Altenheim zurückgebracht wurde.« Tischler lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und blickte kurz zur Decke. »Im Prinzip hast du recht, völlig aus der Luft gegriffen ist deine Version nicht. Aber wo ist dann die Leiche geblieben?«
Mangel strich sich übers Kinn und legte die Stirn in Runzeln. »Daran habe ich auch schon gedacht und mir sind da ein paar Ideen gekommen, die ich aber besser noch für mich behalte.«
»Ach nein, Ralf. Ich habe dich doch nicht entmutigt, oder? Mir macht der ganze Job keinen Spaß mehr ohne deine Theorien«, alberte Tischler.
»Nein, ich mach nicht mehr den Kasper für dich. Ich werde einiges selbst recherchieren und dir dann die Ergebnisse präsentieren. Was ich vorhin sagen wollte: Das Problem mit der verschwundenen Leiche haben wir immer, egal ob Jordan am Tatort war oder nicht.«
»Stimmt. Da hast du völlig recht. Wir müssen also von einem Täter ausgehen, einem Opfer und mittendrin unser Kemal, der zu einer für ihn ungünstigen Zeit vor der Kleingartensiedlung auftauchte. Sollte es eine Leiche gegeben haben, hat sie wohl der Täter irgendwann nach der Auseinandersetzung verschwinden lassen.«
»Genau. Und sollte es keine Leiche gegeben haben, sondern nur einen Schwerverletzten, müssen wir uns mal in den Krankenhäusern umhören.«
»Ralf, du sagst es. Du bist also für die nächste halbe Stunde beschäftigt. Viel Spaß beim Telefonieren.« Dann wies sie mit einer Hand zur Tür.
»Wieso muss eigentlich immer ich die niederen Tätigkeiten ausführen?«, maulte Mangel.
»Weil ich zwei Sterne mehr auf meiner Generalsuniform habe, ganz einfach. Außerdem habe ich ein wichtiges Telefonat zu führen.«
Mürrisch verließ Mangel das Büro. Dann griff Tischler zum Telefonhörer. Nach kurzer Wartezeit hatte sie ihren Kollegen vom LKA in der Leitung.
»Barbara, ich bin unter Druck. Brutal unter Druck. Machs kurz.« Oberkommissar Bechthold klang, als würde er gerade auf dem Frankfurter Börsenparkett Aktien für Billionen durch die Welt schaufeln.
»Ist dir das Wörtchen bitte aus dem Vokabular gestrichen worden oder handelt es sich um eine Dienstanweisung, dass man fortan mit den Lokalpolizisten ein bisschen schroffer umspringt?«
»Nein. Sei nicht schon wieder so anstrengend«, seufzte Bechthold. »Bitte.«
Tischler und ihr Kollege vom LKA hatten bislang kaum etwas miteinander zu tun. Eigentlich waren sie sich zum ersten Mal begegnet, als der Fall Olga Sibowska übergeben wurde. Da es Tischler – milde ausgedrückt - gegen den Strich ging, sich von der Morduntersuchung zu verabschieden, war sie bisweilen etwas kratzbürstig, bisweilen aber auch spitzfindig und ironisch, was ihrem Kollegen gehörig auf die Nerven ging.
Er selbst hatte immer versucht, jeglichen Anflug von Arroganz oder Überheblichkeit zu vermeiden und sich zu den Leuten von der Kripo so kollegial wie möglich zu verhalten. Normalerweise wurde dies auch goutiert, bei Tischler war er sich da allerdings nicht sicher. Dennoch mochte er sie, obwohl sie anstrengend sein konnte.
Читать дальше