»Wo solls denn hingehen?«, fragte der Fahrer, ein Mittvierziger mit schütterem Haar und Pferdeschwanz, der sie wenige Minuten später am Kampfsportzentrum in der Schlüsselbergstraße wieder aussteigen ließ.
»Ich hab da eine Theorie«, hob Mangel an, als er in den Dienstwagen einstieg.
»Ich brenne darauf, sie zu erfahren.«
»Die Russen, mit denen dieser Leo im Clinch liegt, die hab ich im Visier.«
»Weil sie Russen sind?«
»Nein.«
»Weil sie Wodka trinken und für sündteures Geld Fischeier verkaufen?«
»Nein«, antwortete Mangel mit einem Anflug von Ärger. »Lass mich halt ausreden. Diese Gangs halten zusammen, egal, was passiert. Die lauern Kemal auf, folgen ihm bis zu den Kleingärtnern und fallen über ihn her.«
»Daran habe ich auch schon gedacht, aber woher kommen die Goldspuren in der Fahrertür?«
Fast mitleidig grinste Mangel. »Barbara, diese Russen tragen doch alle Goldkettchen und Goldringe. Einer von denen bekommt einen Tritt von Kemal und saust gegen den Wagen. Bumms. Schon haben wir die schönste Delle mit Goldstaub.«
»Verwechselst du die Russen nicht mit den Zuhältern aus den Achtzigerjahren?«, fragte Tischler nach. »Und dann wäre die Sache mit dem beobachteten Mord. Kemal hätte diese Nachricht an sich selbst auf keinen Fall geschrieben, wenn er in eine Schlägerei verwickelt worden wäre.«
»Stimmt. Daran habe ich schon auch gedacht. Ich glaube, dass Leo von seinem Balkon aus beobachtet hat, wie seinem Freund ein paar Russen nachgestiegen sind. Er macht sich auf die Socken, stößt später hinzu und macht einen Russen platt.«
»Dann hätte sich Kemal niemals die Notiz ›Habe vielleicht Mord gesehen‹ geschrieben. Außerdem: Wo steckt die Leiche? Die Russen-Gang hätte keinen Grund, Leo nicht anzuzeigen oder ihn zu attackieren.«
»Bandenehre: Gehe niemals zur Polizei.«
»Ach komm, Ralf. Das ist kein Rockerkrieg wie ihn die Desperados und die Hells Angels ausfechten. Das sind Jugendliche, die gelegentlich ihr überschüssiges Testosteron abbauen müssen.«
»Ist ja recht. Ich rede ja immer nur Schmarrn daher, wie?«, antwortete Mangel beleidigt.
»Nein, Ralf, Gott sei Dank nicht immer, aber seltener ist es in den letzten Jahren auch nicht geworden.«
»Was meint dann Fräulein Allwissend, was passiert ist?«
»Das weiß ich nicht. Ich meine, wir sollten erst die Ergebnisse der Spurensicherung abwarten, dann zimmere ich mir die eine oder andere Theorie. Und du läufst bis dahin nicht den Russen hinterher, klar?«
Mangel brummte wie ein Schwarm Hornissen. Er hätte zu gern in Neuperlach weiter recherchiert.
Das Atelier von Polonius bot dem Betrachter nur teilweise das kreative Chaos, das viele Leute von Künstlerbehausungen erwarten. Küche und Schlafzimmer waren durchaus spartanisch eingerichtet. Polonius selbst würde freilich den Ausdruck minimalistisch bevorzugen. Sehr funktional eben unter Verzicht auf überflüssige Dinge.
Polonius hatte Geschmack und wollte zu jedem seiner Einrichtungsgegenstände gewissermaßen eine Beziehung haben. Die Dinge sind ein Spiegelbild der Seele, meinte er. Und wer seine Wohnung mit Müll vollstopfe oder mit Dutzendware, der beweise, welch verwechselbaren Charakter er habe, so sein Credo.
Individualität beginne bei der Zuckerdose. Und die war bei Polonius aus dem 19. Jahrhundert, ein Sammlerstück aus dem Biedermeier, das er auf einem seiner zahlreichen Flohmarktbesuche ergattert hatte. Zwölf-lötiges Silber mit Blumengravur, eine Zierde für jede Küche, allerdings nicht gerade billig. Für jeden Gast hätte er das Schmuckstück auch nicht auf seinen marmorierten Pariser Bistrotisch gestellt, aber für seine beste Freundin Irina war ihm nichts zu schade.
»Und du willst sicher nicht zur Polizei gehen?«, fragte Irina, selbst Künstlerin, allerdings hatte sie ihre kreative Seele der Malerei verschrieben.
»Zu diesen Ignoranten? Den Herren und Damen habe ich heute schon einen Besuch abgestattet. Das ist verlorene Lebenszeit, nichts weiter«, entgegnete Polonius und unterstrich seine Abneigung mit einer abfälligen Handbewegung. »Und Zeit ist unser wichtigstes Gut. Also lass es uns genießen, zum Beispiel mit diesem köstlichen Espresso.«
Der Künstler stellte zwei Art-Deco-Tassen auf seinen glatt polierten Tisch, auf den angeblich schon Sartre und Camus ihre Croissants gebröselt hatten.
»Die Crema meiner neuen Maschine ist umwerfend. Du wirst begeistert sein«, lobte Polonius seine anthrazitfarbene Butterfly von La Scala, die einen traumhaften Espresso zauberte.
»Du hast recht, der Kaffee ist ein Gedicht«, stimmte Irina in die Lobrede ein. Die Künstlerin war eine Rubensschönheit. Griffig und üppig. Sie trug gern die alten olivgrünen Bundeswehrunterhemden ihres Vaters und eine abgewetzte Jeans, dazu zierte ihre Stupsnase eine mit Fensterglas gefüllte schwarze Hornbrille.
»Doch was diesen Einbruch anbelangt, muss ich dir widersprechen. Du solltest das nicht so auf die leichte Schulter nehmen.«
»Aber die haben nichts gestohlen. Es fehlt keine Antiquität, kein Kunstwerk. Nicht einmal ein Stück Würfelzucker haben sie mir gestohlen«, entgegnete Polonius und süßte demonstrativ seinen Espresso.
»Aus Jux und Dollerei hat dir freilich keiner die Tür aufgebrochen. Die haben was gesucht, Polly.«
»Aber nicht gefunden.«
»Weil es nicht hier ist, stimmts?«
»Stimmt«, gab Polonius zu.
»Das heißt, die werden weiter suchen, bis sie es gefunden haben.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher. Übrigens ist mir nicht klar, was diese Leute suchten. Da gäbe es durchaus mehrere Stücke zur Auswahl.« Zum ersten Mal an diesem Tag huschte ein diebisches Lächeln über das ernste Gesicht des Künstlers. »Eine Schutzmantelmadonna aus dem Spätmittelalter zum Beispiel. Welch Anmut und Grazie in der Haltung, so unfasslich in ihrer Entrückung und doch beherbergt sie in ihrem Mantel, der von ausgesuchtem Blau ist, eine ganze Schar an Bürgern. Allein der Faltenwurf der Kopfbedeckung ist eine unglaubliche Herausforderung.«
»Woher hast du das Schmuckstück?«
»Das, meine liebe Irina, darf ich nicht einmal dir anvertrauen. Auch nicht den Ort, an dem sich die Madonna befindet und auf ihren Klon wartet. Den kenne nur ich. Und so soll es bleiben.«
Polonius nahm die beiden Kaffeetassen zur Hand und räumte sie in die Küche. Von dort holte er eine Flasche Bordeaux und zwei Kristallgläser aus dem Wien zur Zeit Sisis und Franz Josephs.
»Lass uns ein Glas trinken auf die Kunst. Auf dass sie uns weiter gut ernähre und für unser täglich Brot und Wein sorge«, sagte Polonius mit spöttischem Unterton.
»Wenns danach geht, sorgt sie bei mir nur für mein täglich Leitungswasser, aber das ist bekanntlich auch recht gut.«
Mit einem dumpfen Plopp entkorkte Polonius die Flasche und schenkte Irina und dann sich selbst vorsichtig ein.
»Du musst einfach pragmatischer werden, meine Liebste. Die Welt ist noch nicht bereit für deine Farbattacken, sie liebt das Immergleiche. Die ewige Wiederkehr des Immergleichen. Schalte das Radio an und höre dir dieses immergleiche Gewinsel an. Immer dieselben einfachen Phrasen, immer dieselben Rhythmen und Tonfolgen. Warum? Weil der Massenmensch konditionierte Sinne hat. Ein einfacher Hund, der auf ein Signal mit Sabbern reagiert. Du musst den Leuten dieses Signal geben.«
»Oder ich suche mir endlich einen vernünftigen Galeristen. Harry ist ein lieber Kerl, aber er hat einfach keine Connections.« Irina nahm einen tiefen Schluck auf diese Erkenntnis und hielt Polonius ihr Glas hin. Sie war durstig und in der Stimmung, sich zu betrinken.
»Aber, aber, du Undankbare.« Theatralisch gab Polonius Irina einen Knuff auf die Schulter. »Hat er dir nicht bei sämtlichen Volkshochschulen in der Münchner Prärie Kurse und Ausstellungen verschafft?«
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