»Steck den Zahnstocher wieder ein, ich bin am Ende«, keuchte Walker.
»Sicher ist sicher«, entgegnete der Mann und hielt das Messer weiterhin kampfbereit. »Sie haben gestern schon versucht, mich aufs Kreuz zu legen. Außerdem sind Sie ein Profi, Mr. Walker.«
»Aber nur ein professioneller Dieb, kein professioneller Schauspieler.« Seine Schmerzen waren wieder unerträglich geworden. Die kleinste Regung ließ sein Hirn explodieren. »Ich brauche einen Arzt, Mann«, bat er fast flehentlich. »Mein Schädel ist zertrümmert.«
»Erst will ich wissen, wo du meine Figur hast?« Der Mann versuchte, einen möglichst rauen, bestimmten Ton anzustimmen. Er wollte wie ein knallharter Gangster klingen.
»Ich hab keine Ahnung, wo der Vogel hingeflattert ist.«
»Verarsch mich nicht, du Mistkerl«, giftete der Mann und stieß Walker mit der linken Faust gegen den Kopf, dass dieser laut aufschrie.
»Mach das nicht, Mann«, wimmerte er. »Ich muss ins Krankenhaus. Sofort.«
»Erst wenn ich meine Plastik zurück habe.«
»Okay. Sie ist in meinem Wagen, ein schwarzer Chevrolet Camaro.« Walker wusste, dass er verloren hatte und er auspacken musste, wenn er überleben wollte.
»Schickes Auto. Dein Handwerk hat goldenen Boden.«
»Ist ein Leihauto, nichts zum Angeben.« Dann nannte Walker das Kennzeichen und den genauen Standort.
»Und der Schlüssel?« Der Mann streckte die Hand aus und machte eine ungeduldige, bittende Bewegung.
Walker keuchte, er konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Langsam setzte er sich auf den Stuhl. Er griff in seine Hosentasche und zog ein Bündel mit Schlüsseln hervor.
»Da haben wir ein kleines Problem.« Walker durchsuchte den Schlüsselbund. Es wurde ihm immer wieder schwarz vor Augen. »Hier. Der müsste passen«, sagte er zu dem Mann und zeigte ihm einen bestimmten Schlüssel, der in keiner Weise aussah wie ein Original von Chevrolet. »Wenn nicht, hast du Pech gehabt und die Sirene geht los.«
Dann nahm der Mann den Schlüssel. Er betrachtete den ganzen Bund. So etwas hatte er schon einmal gesehen, als er einen Schlüsseldienst kommen lassen musste, weil er sich ausgesperrt hatte. Über 200 Euro hatte ihn seine Schusseligkeit gekostet. Das waren keine normalen Schlüssel, das waren Dietriche, die ganze Ausrüstung des genialen Einbrechers. Sicherheitshalber nahm er den Bund an sich. Walker war sicher nicht nur ein geübter Ein-, sondern auch Ausbrecher.
»Ich hoffe für dich, dass du nicht gelogen hast. Wenn ich meine Figur finde, fahre ich dich sofort ins nächste Krankenhaus. Wir müssen uns allerdings eine hübsche Geschichte zurechtlegen, wie das mit deinem Kopf passiert ist.«
»Ist in Ordnung. Du kannst dir vorstellen, dass ich noch weniger Interesse daran habe als du, die Wahrheit zu erzählen.«
»Ja, das glaube ich auch. Übrigens, in wie vielen Ländern wirst du eigentlich gesucht?«
»In gar keinem. Ich war nicht so dämlich und habe mich erwischen lassen«, log Walker.
»Ach, dann bin ich der Erste gewesen. Welch Ehre. Denn dein Ruf ist dir vorausgeeilt. Sonst hätte ich dir gestern auch nicht aufgelauert. Ich habe dir einfach nicht getraut.«
Der Mann lächelte. Er war stolz auf seinen Spürsinn.
»Du bist einfach zu clever für mich. Und jetzt gib Gummi, Mann, mein Schädel explodiert.«
»Soll ich noch ein paar Aspirin plus C runter bringen?«, fragte der Mann spöttisch.
»Verpiss dich. Ich brauche einen OP-Saal, keine Tabletten.«
Daraufhin zog sich der Mann zurück und verschloss die Tür.
07Auf dem Weg durch den Ostpark entdeckten die Polizisten keine weiteren Blut- oder Kampfspuren. Tischler kam lediglich zur Erkenntnis, dass Kemal einen verdammt weiten Nachhauseweg hatte. Selbst wenn er schnell ging, war er eine dreiviertel Stunde unterwegs. Sie hatte Respekt vor dem Jungen, aber auch ein wenig Mitleid.
Bis zu seinem Unfall war Kemal ein mustergültiger Sportler und ein guter Schüler gewesen. Der Blitzeinschlag hatte ihn jedoch aus der Bahn geworfen. Langsam erst fing er sich wieder. Und ein Silberstreif am Horizont war sichtbar. Da er mit dem Sprechen Fortschritte machte, wollte er sich im Wintersemester an der Universität für Sportwissenschaften einschreiben. Die mysteriösen Vorkommnisse der letzten Nacht und vor allem die Folgen, nämlich sein Rückfall in die Sprachlosigkeit, machten ihm allerdings schwer zu schaffen. Was würde er tun, wenn er ein Referat an der Uni zu halten hatte? Solche Fragen gingen ihm durch den Kopf, als er seine Wohnung in Neuperlach erreichte.
»Respekt, Kemal. Die Strecke gehen Sie in der Nacht und das auch noch mit ein paar Bierchen im Leib«, meinte Tischler anerkennend. »Das wäre nichts für mich. Bevor ich Sie entlasse, möchte ich noch ein paar Dinge mit Ihnen abklären.«
Kemal blickte die Kommissarin erwartungsvoll an.
»Gehen Sie in der nächsten Zeit ans Telefon?«
Der Kickboxer schüttelte vehement den Kopf. »Nur Handy«, flüsterte er ergänzend.
»Gut, die Nummer haben wir ja. Dann erübrigt es sich, dass wir Ihren Anschluss abhören lassen. Wünschen Sie Polizeischutz?«
Wiederum schüttelte Kemal den Kopf.
»Nein? Dann bedenken Sie aber bitte, dass Sie in Gefahr sind. Sollten Sie wirklich einen Mord gesehen haben, haben Sie den Mörder gesehen, es jedoch vergessen! Der Mörder aber kennt Sie, weiß nichts von Ihrer Krankheit und muss davon ausgehen, dass Sie ihn wiedererkennen.«
Kemal wedelte mit den Händen, was seine Ablehnung des Polizeischutzes verstärken sollte.
»Ich möchte aber nicht, dass Sie hier allein leben. Das ist zu gefährlich. Sie sind möglicherweise Zeuge in einem Mordfall und ich muss Sie schützen. Haben Sie eine Vertrauensperson, die bei Ihnen schlafen kann oder – was mir noch lieber wäre – bei der Sie schlafen können.«
Kemal überlegte kurz und nickte dann. »Meine Schwester Aische«, hauchte er.
»Wollen Sie bei Ihr wohnen?«
Wiederum bejahte der Kickboxer die Antwort.
»Ralf, gib ihm bitte deinen Block. Kemal soll Adresse und Telefonnummer der Schwester notieren.«
Kemal schrieb mit krakeligen Buchstaben, was man von ihm wollte. Dann verabschiedete er sich. Die Kommissarin bestand allerdings darauf, noch mit in seine Wohnung zu kommen. Man wusste ja nicht, ob nicht ein Killer wartete. Doch die Wohnung war leer, auf dem Anrufbeantworter keine Nachricht. Beruhigt gingen die Polizisten wieder hinunter.
»Und nun?«, fragte Mangel unentschlossen.
»Nun rufen wir uns erst mal ein Taxi. Ich geh die Strecke auf jeden Fall nicht zurück.«
»Denk an unsere Spesenrechnung.«
»Ich denke Tag und Nacht an nichts anderes«, meinte Tischler.
»Vor zwei Monaten hast du einen Anschiss bekommen, weil sie so hoch war.«
»Da musste ich aber auch undercover in einem Zwei-Sterne-Restaurant ermitteln und in so einem noblen Futter-Trog kann ich mir ja wohl keinen Cheeseburger bestellen«, entgegnete Tischler und zückte ihr Handy.
»Ich habs ja nicht mit Scampi im Trüffelsabayon«, gestand Mangel.
»Ich weiß, Ralf. Du bist ein Schweinsbraten-Jünger und Weißwurst-Guru.«
»Meine Mama hat den besten Krustenbraten der ganzen Hallertau gezaubert. Nach dem hätte sich dein Sterne-Koch die Finger geleckt.«
»Ganz sicher. Aber wie du dich vielleicht erinnern kannst, wurde meinem Mordopfer, diesem Spitzenkoch, ein Küchenbeil in den Kopf gerammt. Der schleckt vielleicht noch die Radieschen von unten ab. Ganz ohne Salz, also ganz unbayrisch.«
»Barbara, du redest oft wie eine Zuagroaste«, beschwerte sich Mangel.
»Nein, ich bin in München geboren, du in Niederbayern, das ist der ganze Unterschied.«
»Einigen wir uns darauf: du bist in München aufgewachsen, ich in Bayern.«
»In Ordnung.«
In diesem Moment fuhr das Taxi heran und beendete das weißblaue Streitgespräch.
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