1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Die Tür. Das musste sein nächstes Ziel sein. Sie befand sich nur wenige Schritte entfernt. Der Raum war klein und maß bestenfalls fünfzehn Quadratmeter. Langsam schlurfte er zur Tür, auf den Weg in die Freiheit. Er brauchte einen Arzt, genauer gesagt ein Krankenhaus.
Endlich fand seine Hand die Klinke. Doch, er hatte es bereits befürchtet, die Tür war verschlossen und der Schlüssel steckte nicht. Normalerweise wäre das für ihn eine der leichtesten Übungen gewesen, dieses primitive Schloss zu knacken, doch in seinem Zustand war nicht daran zu denken, obwohl er vermutlich das nötige Werkzeug dabei hatte. Er musste sich konzentrieren und den Schmerz ablenken, dann würde es vielleicht klappen.
Wer hatte ihn eingesperrt? Und warum? Diese Fragen zermarterten Walker allmählich das Gehirn genauso wie die Schmerzen. Doch dann kam die Erinnerung schlagartig zurück. Und er hörte, wie sich ein Schlüssel in das Schloss bohrte.
05Bei ihrer Rückkehr ins Büro hätte die Nase der Hauptkommissarin um ein Haarbreit Bekanntschaft mit der Härte der Tür gemacht. Denn diese wurde jäh und schwungvoll aufgestoßen, als sie just eintreten wollte. Es war nur ihrer Reaktion, ihren in unzähligen Karatestunden antrainierten Reflexen zu verdanken, dass sie schnell zurückwich.
Dem Mann war es nicht entgangen, dass er eine Frau fast mit der Tür gerammt hätte. Offensichtlich war er in Eile, doch nicht so sehr, dass er seine Manieren vergessen hätte. Artig entschuldigte er sich für seinen übertriebenen Schwung, aber er müsse zur Arbeit.
»Neureuther, Jens Neureuther«, stellte er sich vor und gab der Hauptkommissarin die Hand. »Ich habe einen meiner Patienten bei Ihnen abgeliefert.«
»Das Krankenhaus ist aber ein paar Blocks weiter«, entgegnete Tischler.
»Ich habe ihn nicht hierher gebracht, damit Sie ihn therapieren. Das schaffe ich ganz allein. Ich habe ihn hergebracht, weil er möglicherweise einen Mord beobachtet hat.«
»Möglicherweise?« Tischler sah Neureuther mit gerunzelter Stirn an.
Zwischen Tür und Angel erzählte Neureuther die Geschichte von Üzlis Unfall und seinen Folgeschäden, von den Verletzungen, der blutigen Kleidung und dem seltsamen Anruf.
»Die Nummer habe ich mir gemerkt und Ihrem Chef mitgeteilt«, schloss Neureuther seinen Bericht.
»Ein Stuhl macht noch keinen Chef. In der dienstlichen Rangfolge stehe ich über meinem Kollegen«, rückte Tischler die Verhältnisse zurecht.
»Das wusste ich nicht«, entschuldigte sich Neureuther und griff in seine Jackentasche. »Damit Sie sich nicht übergangen fühlen«, meinte er mit einem Anflug von Ironie und überreichte ihr seine Visitenkarte. »Sollte es ein Problem mit Kemal geben, wenden sie sich bitte an mich.«
Dann grüßte er und ging. Tischler betrat ihr Büro, wo Mangel und Kemal schon auf sie warteten. Die Kommissarin musterte den Patienten von Neureuther. Kemal war ein Musterathlet. Groß gewachsen wie ein Baum, drahtig und ohne zu hungern so frei von Fett, wie es sich jedes Model wünschen würde. Die physische Erscheinung passte jedoch gar nicht zu seiner Haltung. Er kauerte auf dem Stuhl, als würde er gerade eines Schwerverbrechens überführt. Es war nicht zu übersehen, wie unwohl er sich fühlte.
»Ralf, bring bitte die blutigen Kleidungsstücke zur Spurensicherung. Danach überprüfst du die Telefonnummer«, trug Tischler ihrem Mitarbeiter auf. Schnell stand Mangel auf, packte die Beweisstücke und verschwand. »Ich unterhalte mich inzwischen ein wenig mit Herrn Üzli.«
Erschrocken blickte dieser hoch. »Ich nicht sprechen kann«, wehrte er ab, dabei so leise flüsternd, dass ihn nur sensible Ohren vernehmen konnten.
»Oh doch, das können Sie«, ermunterte ihn Tischler.
Tischler blickte Kemal an. Sie überlegte, wie sie am besten mit diesem verunsicherten Mann umgehen sollte.
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Kaffee? Saft? Wasser?« Sie ließ zwischen jedem Wort eine kleine Pause, damit Kemal mit einer Kopfbewegung antworten konnte. Beim letzten Angebot nickte er. Tischler holte eine Flasche klassischen Sprudel und zwei Gläser und schenkte Kemal ein. Sie selbst nahm auch einen kräftigen Schluck. Dann holte sie einen Block hervor und legte ihn Kemal vor.
»Machen wir es so, ich versuche, Ihnen vorrangig Entscheidungsfragen zu stellen, die Sie mit einem Nicken oder Kopfschütteln beantworten können. Alles andere beantworten Sie schriftlich, wenn Sie nicht sprechen wollen. In Ordnung?«
Kemal nickte erleichtert. Seine Redehemmung war bei unbekannten Personen enorm groß.
»Die erste Frage müssen Sie wohl schriftlich beantworten. Ich muss genau Ihren gestrigen Nachhauseweg kennen. Bitte schreiben Sie auf, wie Sie von A nach B gekommen sind, am besten mit den Zeiten.«
Kemal nickte und nahm den Block und einen Kugelschreiber. Dann überlegte er, schrieb etwas und begann zu zeichnen. Immer wieder hielt er inne und überlegte. Nach einigen Minuten riss er das Blatt heraus und legte es Tischler vor. Sie stutzte, denn Kemal zeichnete sofort weiter.
Muss ein verdammt langer Nachhauseweg gewesen sein, dachte sich die Kommissarin und betrachtete den ersten Teil der Karte. Kemal war kein großer Zeichner und alles andere als ein Kalligraph. Seine Schrift war unästhetisch, krakelig, aber wenigstens lesbar.
Eigentlich hätte Tischler gern die Kollegen vom LKA angerufen und ihnen von dem seltsamen Brief erzählt, doch sie wollte ungestört telefonieren. Diese Informationen waren nichts für fremde Ohren. Stattdessen vertrieb sie sich die Zeit damit, den Computer anzuwerfen und nachzuschauen, wo die Schlüsselbergstraße war. Dort befand sich nämlich das Towasan Martial Arts Center, das Kemal gegen einundzwanzig Uhr verlassen hatte.
Schnell wurde die Kommissarin fündig. Die Straße verband den Mittleren Ring Ost kurz vor dem Richard-Strauß-Tunnel mit der Berg-am-Laim-Straße, die ihren Namen von dem unscheinbaren Viertel im Münchner Osten hatte, das so unbedeutend zwischen Haidhausen und Trudering lag. Als die Kommissarin den zweiten Teil von Kemals Karte bekam und bemerkte, dass er sich an den dritten machte, wurde ihr klar, dass der Tag gerettet war. Diese Strecke nach Blutspuren abzusuchen, würde mindestens zwei Stunden, eher drei oder vier dauern. Weg vom Schreibtisch und hinaus in die Sonne. Das war nicht das Schlechteste.
In der Schlüsselbergstraße gab es sogar einen russischen Supermarkt, genauer gesagt einen Supermarkt mit Produkten aus Osteuropa. Ansonsten zeichnete sie sich dadurch aus, dass man die Häuser in ihrer grauen Einförmigkeit lediglich an der Hausnummer unterscheiden konnte. Einzig der Radweg war von einer Baumallee gesäumt, die im Grün des erwachenden Frühlings etwas Strahlendes, fast schon Lyrisches hatte.
An dem Kampfsport-Center wäre Tischler fast vorbeigefahren, so unscheinbar war es. Lange hatte das Haus schon keinen Malerpinsel mehr gesehen, was die Tristesse nur verstärkte. Dem gegenüber standen die bunten Auslagen und Transparente des Martial-Arts-Center. In der roten Tür war eine stilisierte Weltkugel, in deren Vordergrund ein schwarzes gegen ein rotes Strichmännchen kämpfte.
Bei den Fahrradständern hingen zwei Transparente, die Werbung für Kinder-Karate machten. Ab dem zarten Alter von fünf Jahren nahm man kampfbereite Kids auf, um sie in die Geheimnisse dieses japanischen Sports einzuweihen.
Tischler fühlte sich an ihre Kindheit erinnert, hatte sie doch selbst mit neun begonnen, Karate zu machen, ein Mädchen in einer Jungenwelt, das sich durchbeißen musste. Und es auch tat. Der anfängliche Spott, es gab nur zwei Mädchen in der Gruppe, die notgedrungen mit den teils sogar älteren Jungs mitmachen mussten, war schnell gewichen, da sie und Becki zäh und ehrgeizig dagegenhielten und sich von den üblichen Scherzen nicht beeinflussen ließen. Die Kommissarin war es von zu Hause nicht anders gewohnt. Früh war ihre Mutter gestorben, viel zu früh. Und viel zu früh wuchs sie in die Rolle als einzige Frau im Haushalt hinein, die sich um die Brüder und den zwar intelligenten, aber bisweilen unpraktischen, gelegentlich fast schon lebensuntauglichen Vater kümmern musste.
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