»10. März 1864.« Das wusste jedes Kind in Bayern. Trotzdem ärgerte es mich, dass der Engel mit mir wie mit einem Kind sprach.
»Und er ist unser Herrscher und König und Landesvater und alles?«
»…«
»Und jetzt kommt das Schwierigste, Kiener. Eine Rechenaufgabe. Wenn der König 1864 den Thron bestiegen hat und, wie du sicher weißt, 1845 geboren wurde, wie alt ist denn unser Gebieter heute?«
Ich mochte seinen überheblichen Tonfall nicht. »Gebieter«, sagte er mit einem Unterton, der mir respektlos vorkam. Ich musste an den mystischen Moment in Rieding denken, als ich das Wandbild unseres Königs angesehen hatte und von meinen Gefühlen übermannt worden war. Und mir fielen die Gesichter meiner Mitschüler in der Oberpfaffinger Dorfschule ein, denen beim Singen von »Heil unserem König« die Tränen über die Wangen liefen. Trotzdem rechnete ich. Und das war nicht schwierig: 2016 minus 1845 war hunderteinundsiebzig. Nicht gerade eine komplizierte Rechenaufgabe für einen Fischdandler. Obwohl ich sonst eher mit kleineren Zahlen zu tun hatte.
»Das wissen Sie doch selbst. Warum stellen Sie mir so eine Frage?«
»Wieviele andere Hunderteinundsiebzigjährige kennst du noch? Oder andersherum: Wie alt ist der älteste Mensch, den du kennst?«
»Die Oma vom Sailler ist achtundachtzig. Aber die machts nicht mehr lang.«
»Und hunderteinundsiebzig. Kommt dir das nicht komisch vor?«
»Er ist immerhin der König.« Ich konnte nicht glauben, dass mir der Engel überhaupt so ein dumme Frage stellte. »Vom Andreas von Rieding heißt es auch, dass er über hundertfünfzig Jahre alt geworden ist. Und, wie ich heute gesehen habe, ist der nicht unbedingt eine erfundene Figur. In der Bibel gibt es auch den Abraham und der ist hundertfünfundsiebzig Jahre alt gewesen. Warum soll unser König also nicht hunderteinundsiebzig sein?«
Der Engel blickte fast verzweifelt in Richtung Elsi. Die kam auf mich zu, nahm meinen Arm und führte mich an das große Fenster.
»Kiener, wir hören jetzt besser mit der Fragestunde auf. Du bist hier aufgewachsen und hast nie etwas anderes gehört, als was man dir in der Schule, im Katechismusuntersicht und in der Kirche erzählt hat. Du hast nie etwas in Frage gestellt. Warum auch. Jetzt bist du den sogenannten Perchtln zum ersten Mal begegnet und hast zum ersten Mal einige Dinge hinterfragt. Vielleicht ist es ein bisschen viel, wenn wir versuchen, dich ohne unsere Hilfe selbst auf alles kommen zu lassen« Elsi blickte zum Engel. Der drehte sich von uns weg. Elsi fuhr fort. »Außerdem ist es schon spät, du hast noch nichts im Bauch und morgen ist ein neuer Tag. Ich zeig dir, wo du schläfst und dann essen wir.«
Elsi führte mich durch eine Türe im Felsen auf der Rückseite des Schwalbennesthauses in ein geräumiges Höhlenzimmer. Die Wände waren grob aus dem Fels geschlagen und weiß angestrichen. Im Gegensatz zum windigen, wackelnden und knarzenden Holzteil des Schwalbennests, war hier alles fest und ruhig. Und unglaublich sauber. An einer Wand stand ein einfaches helles Holzbett. Gegenüber war ein Waschtisch mit weißem Waschgeschirr. An der Wand über dem Bett hing die farbige Landkarte, eines Landes, das ich noch nie gesehen hatte: Spitz und vom Meer umgeben. Die Ortsnamen waren in einer mir unbekannten Sprache. Elsi zeigte mir noch den Abort. Ein ebenfalls weißes Zimmerchen, das mir so sauber vorkam, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dort auf das Klo zu gehen. Aber durch den ganzen Gang nach unten gehen, um in die Büsche zu machen … Statt eines Brettes mit Loch war da eine Art Stuhl aus demselben, kalten Material wie sonst Teller oder Suppenschüsseln, mit einer hölzernen Einfassung der Sitzfläche. An einer Wand war eine Waschschüssel fest angebracht. Aus einem eisernen Rohr konnte man durch Treten auf ein Pedal am Boden Wasser fließen lassen. Als ich das Abortzimmer verließ, schlich sich Elsi direkt hinter mir hinein und zog an einer Kette, die neben dem Stuhl von der Decke hing. Es rauschte, als ob Wasser fließt.
Im großen Schwalbennestraum gab es an einem Tisch Fleischsuppe, Brot und kaltes Fleisch mit Kren. Es war nur für mich gedeckt und Elsi saß schweigend und abwartend neben mir. Der Engel war nicht dabei.
Durch das große Fenster sah ich im Westen eine untergehende Sonne über den Bergen. Ganz leise hörte man die Kirchenglocken aus Russlach. Abendandacht.
Am nächsten Morgen fiel mir alles schwer. Muskelkater vom schnellen Bergaufgehen. Im Zimmer war es dunkel. Ich wusste nicht, ob noch oder schon wieder. Zwar hatte ich auf der echten Matratze gut geschlafen, besser als auf meinem Strohsack, doch war ich ohne Orientierung und die stehende Luft im Höhlenraum hatte ein drückendes Gefühl in meinem Kopf hinterlassen.
Trotz der Dunkelheit entdeckte ich, dass ich über einen Seilzugmechanismus eine Klappe öffnen konnte, die einen Spiegel verbarg, der Tageslicht in das sonst fensterlose Zimmer leitete. Es ging mir schon etwas besser. Ich wusch mich ausgiebig und fand frische Kleidung neben dem Waschtisch. Die gleiche, die der Engel auch getragen hatte. Das Hemd war aus einem feinen, aber stabilen Stoff und die Hose machte einen unglaublich exakten Eindruck auf mich. Alle Nähte waren gleichmäßig und nirgendwo fand ich Unregelmäßigkeiten im Stoff oder der Webstruktur. So ein Material hatte ich noch nie in den Händen gehalten. Ich fand auch neue Schnürstiefel neben meinem Bett. Die mussten vom besten Schuster Bayerns gemacht worden sein. Alle Nähte waren perfekt und das Leder der Sohlen war fest und doch elastisch.
In Hemd, Hose, Weste und Stiefeln ging ich in den Schwalbennestraum. Es war doch noch früher als gedacht. Noch war alles still und niemand außer mir war wach. Vom großen Fenster aus hatte ich einen guten Blick auf die Viehweide unter der Felswand. Dort war schon viel los. Drei Männer fingen die Wollrehe ein. Sie versuchten Schlingen um ihre Hälse zu werfen und sie sobald sie eines erwischten an zwei Beinen zusammenzubinden, damit es nicht mehr so gut laufen konnten. Einige der Tiere waren bereits gefangen und in einem eingezäunten Bereich eingesperrt.
Hinter mir hörte ich Geräusche. Elsi kam durch die Türe in der Felswand. Mir verschlug es bei ihrem Anblick fast den Atem. Ich sah nur nackte Beine, nackte Füße und nackte Arme. Sie streckte sich, lachte, als sie meinen Gesichtsausdruck sah und verschwand wieder in der Felswandtüre.
Kurze Zeit später kam sie normal gekleidet zurück. Kleid, Schürze, die Haare hochgesteckt.
Elsi brachte Brot, Butter und Muß, stellte es auf den Tisch. Außerdem platzierte sie eine große Schüssel mit Gsteckelter in der Mitte. In einem großen Krug brachte sie dampfend heiße Milch und in einem anderen war kochendes Wasser. Sie setzte sich und machte mir ein Zeichen, mich neben sie zu setzen. Aus einem Weckglas nahm sie mit einem Löffel braune Körnchen und schüttete diese in einen Tonbecher. Als sie das heiße Wasser darüber goss, wusste ich, was es war: Kaffee. Sie goss von der heißen Milch dazu und nippte am Becher. Dabei lehnte sie sich sehr weit in ihrem Stuhl zurück. Sie legte sich fast hinein.
Ich nahm mir vom Brot und brockte mir einige Stücke in die Gsteckelte. Dann aß ich noch eine Scheibe mit Butter und Mus. Das Brot war sehr frisch und ich befürchtete davon Bauchweh zu bekommen.
»Möchtest du auch einen Kaffee, Kiener? Wir haben zwar nur Löslichen, aber der ist besser als nichts.«
Mich schüttelte es bei dem Gedanken an das bittere buttrige Getränk vom Holderer.
»Aber besser du gewöhnst dich nicht zu sehr daran. Unten bekommst du eh nur Kaffeeersatz und der schmeckt noch furchtbarer.«
Ich schaute Elsi über den Tisch hinweg an.
»Was wolltet ihr mir gestern mit eurer Fragerei erklären?«
»Warte bis der Engel da ist.«
»Der lässt mich dastehen wie ein Depp.«
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