Das Andreasfeuer
Bericht von Joseph Kiener. Fortsetzung
Bis mittags schaffte ich es fast bis nach Russlach. Vor Betreten des Ortes wollte ich mich noch waschen und frische Kleidung anziehen. Ich ging also vom Weg ab immer dem Rauschen der Pfaffl nach. Ein Wildwechsel führte durch das Unterholz bis ans Ufer. Dort konnte ich mich säubern. Das Wasser war sehr kalt. Barfuß ging ich durch den seichten Bach und hoffte, so den Weg abzukürzen. An einer Furt sah es so aus, als würde ein Pfad vom Ufer in den Wald und dann weiter in Richtung Straße führen. Ein großer moosiger Baumstamm lag quer über den Fluss und ich glaubte, einen Einstieg am runtergetretenen Gras am Bachufer und dem abgerissenen Moos zu erkennen. Vielleicht wieder nur ein Wildwechsel. Aber ich kam zurück ins Trockene, raus aus dem eiskalten Wasser. Nach wenigen Fuß durch Farn und feuchtes Gras öffnete sich eine Lichtung, auf der ich etwas sah, das ich vorher noch nicht gesehen hatte: Ein ungefähr zweimannhoher Pfahl steckte im Boden. Offensichtlich hatte er in der Mitte eines großen Feuers gestanden, denn rings um den Stamm lag noch verkohltes Holz und der Pfosten selbst war ebenfalls rußig schwarz. Die Feuerstelle musste schon uralt sein, denn es roch nicht verbrannt und die Regengüsse und der Schnee vieler Monate oder sogar Jahre hatten von Kohle und Asche kaum noch etwas übrig gelassen. Außerdem war die Feuerstelle bereits stark mit Gras und Farnen eingewachsen und an manchen Stellen vom Gebüsch vollkommen verdeckt. Ich begann langsam um den Pfahl herumzugehen. Auf der anderen Seite sah ich den Wildwechsel, der tiefer in den Wald und hoffentlich wieder auf die Russlacher Straße führte. Vorsichtig schlich ich weiter um die ehemalige Feuerstelle herum. Die verkohlten Stücke sahen seltsam aus. Regelmäßig. Nicht wie Äste mit Rinde und kleinen Zweiglein, eher wie Knochen. Und dann lag da auf einmal ein zerbrochener Schädel. Und noch einer. Und ein dritter. Ich ging schneller. Nur vorbei. Ein vierter Schädel. Ich rannte. Stolperte. Rannte weiter. Bis ich wieder die Straße sah. Ich zitterte vor Angst. »Russlach, Doben, Hinterwald. Russlach, Doben, Hinterwald. Russlach, Doben, Hinterwald …«, sagte ich mir vor, um mich zu beruhigen.
In meiner Vorstellung war Russlach immer so ähnlich wie Rieding gewesen. Viel größer als Oberpfaffing. Mehr wie eine Stadt als ein Dorf. Ein Marktplatz, ein Brunnen, ein großes Amtshaus. Als ich aber bleich und noch immer zitternd in den Ort rannte, kam es mir erst kurz so vor, als sei ich zurück in Oberpfaffing. Oder in einer noch mickrigeren Version von Oberpfaffing. Nur vier oder fünf Ortshäuser an einer schlammigen Straße, eher eine Kapelle als eine Kirche, kein Kramer, kein Bäcker und kein Wirt. Die Häuser waren schmutzig und schon lange nicht mehr geweißelt, die Türen hingen schief in den Angeln und die Viecher schrien hungrig. Die Pfaffl war durch den Regen in den Bergen sehr stark angeschwollen und rauschte laut und kalt durch den Ort. Auf der Straße war kein Mensch. Und man roch auch nicht das übliche Ofenfeuer, das sonst nach einem Regen, gerade im Frühjahr, in der Luft hing. Alles war kalt und leer. Wo waren alle hin? Meine Angst wurde nicht kleiner durch die fehlenden Russlacher. Lange konnten die noch nicht weg sein. Sonst würden die Viecher noch lauter brüllen. Aber warum brannten keine Herdfeuer? Mir war unwohl.
Neben der Kirche sah ich das Amtshaus. Oder vielmehr die Amtshütte. Ich schob die Türe auf und betrat den kalten Raum. Das vertraute Bild einer Amtsstube: Ein Schreibtisch, das fotografische Portrait des Königs, das in allen Amtsstuben hing, Stempel, ein ordentlich unter den Tisch geschobener Stuhl, Siegellack und die dazugehörigen Siegel im verglasten und abgesperrten Kasten, die Brotzeit sauber verpackt im Brotzeitpapier auf der Fensterbank, der leere Huthaken: Eine Amtsstube halt. Ich rief vorsichtig »He«, eine Kuh schrie etwas lauter als vorher. Sonst nichts.
Langsam erholte ich mich etwas von meinem Schrecken im Wald und merkte, dass ich hungrig war. Die Brotzeit roch gut und der Amtmann war nicht da. Nach München würde der mich schon nicht schicken deswegen. Ich nahm das Brot, schloss die Türe hinter mir und setzte mich vor die Kirche. Es begann zu regnen und ich hatte Heimweh nach Oberpfaffing. Wer hätte das gedacht. Heimweh nach einem Ort, wo man mich gerade erst verhauen hatte.
Die Viecher wurden wieder stiller und auch die Geräusche der Pfaffl schienen in den Hintergrund zu treten. Ich kaute das Brot, aß die Wurst und den Käse und lauschte.
Ganz weit entfernt glaubte ich etwas zu hören. Menschliche Geräusche. Rufen oder eine Feier. Wie Kirchweih oder ein Osterfeuer. Ich stand auf und drehte mich im Kreis um herauszufinden, von wo die Geräusche kamen. Aber da war wieder nur Stille.
Ich stand auf und ging in Richtung Hang. Plötzlich glaubte ich wieder die Geräusche zu hören. Vielleicht war es sogar Gesang. Ich ging weiter. In einem Stall, an dem ich vorbeikam, schrien die Kühe. Je größer die Entfernung zu den Ställen wurde, desto lauter hörte ich jetzt das Gesinge. Oder doch Gerufe? Schließlich war ich nah am Ufer der Pfaffl und blickte auf die andere Uferseite. Dort war eine große Viehweide und dahinter der Wald am ansteigenden Berghang. Auf der Wiese, direkt am Waldrand, sah ich die Ursache der Geräusche: Etwa dreißig oder vierzig Menschen, Männer, Frauen und einige Kinder rauften. So sah es zumindest auf den ersten Blick aus. Eine Schlägerei. Das gab es bei uns nicht gerade selten. Aber eher im Wirtshaus oder auf einer Dult. Vielleicht war es auch nur eine Art Dorfritual. Ein symbolisches Sich-Ausraufen. Ernst konnte es nicht sein, dafür sah es zu lustig aus. Ich musste fast lachen, als ich dabei zusah. Einige lagen bereits wie erschöpft auf dem Boden. Andere rangen noch weiter miteinander.
Ich ging noch näher ans Ufer. Dort stand ein Schober. Ich wollte auf das Dach klettern, um die Rauferei besser sehen zu können. Es sah von hier schon so lustig aus. Ich fand keinen Tritt, um schnell auf das Dach zu gelangen. Also ging ich nach vorne, zur offenen Seite des Schobers, um mir eine Leiter oder einen Hocker oder irgendetwas zum Hochklettern zu besorgen und blickte im Inneren des Unterstands in eine Unzahl ängstlicher Kinderaugen. Zwanzig oder dreißig Kinder saßen im Heu des Schobers und beobachteten angsterfüllt die andere Seite des Baches. Schmutzige, abgerissene Dorfkinder mit panisch aufgerissenen Augen. Die Kleineren hingen an den Größeren. Das Jüngste noch ein Säugling, das Älteste vielleicht dreizehn.
Ich verstand nicht und blickte von den Kindern wieder auf die andere Seite des Flusses. Wenn das hier die Dorfkinder waren, was waren dann das da drüben für Kinder? Ich ging noch näher ans Ufer und zwickte meine Augen zusammen. Ich stand schon fast im Wasser. Das waren gar keine Kinder da auf der anderen Seite. Das waren nur kleine Menschen. Und jetzt sah ich auch, dass ausschließlich die Großen mit den Kleinen rauften. Keine Großen untereinander. Und es war auch kein einfaches Balgen. Da war Blut. Fast alle der Kleineren lagen inzwischen auf dem Boden. Ich schaute wieder zu den Kindern. Dann wieder zurück ans andere Ufer.
Das waren Perchtln. Die Russlacher kämpften mit Perchtln. Die Sagenfiguren. Perchtllauf, Perchtlmannderl, Perchtltraditionen. Die Bringer des Viechfiebers und anderer Hexereien. Der Grund, warum sich Kinder nachts vor Angst in den Schlaf weinten und ich im Egenkofener Schober so schlecht geschlafen hatte. Der Grund, warum die Kinder in Oberpfaffing nicht auf den Wachten durften. Die Feinde des heiligen Andreas von Rieding. Der Grund für den Andreaskult, den der Holderer und seine Heimatwahrer verbieten wollten. »Das sind Perchtln«, sagte ich zu den Kindern im Schober. Die größte, die Dreizehnjährige nickte.
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