Plötzlich ging alles ganz schnell. Jetzt liefen die letzten drei Perchtln, die noch stehen konnten, in den Wald, verfolgt von einigen Russlachern. Andere Dörfler kümmerten sich um die drei auf dem Boden liegenden Ihrigen. Die schienen nur verletzt zu sein, denn sie bewegten sich, setzten sich auf und lachten sogar. Wieder andere begannen die auf dem Boden liegenden Perchtln zusammenzuziehen und zu einem Haufen zu stapeln. Vor wenigen Augenblicken war noch gekämpft worden und jetzt war alles schon wieder vorüber.
»Jetzt machen wir das Andreasfeuer«, sagte das Mädchen.
Wie auf ein Kommando standen die Kinder auf und gingen zurück ins Dorf. Unterhalb der Kirche war ein Steg über die Pfaffl. Ich folgte den Kindern. Deren Stimmung wurde langsam fröhlicher. Einige Erwachsene kamen uns entgegen und lachten. Sie hatten leichte Verletzungen im Gesicht und an den Armen und Beinen. Aus dem Dorf kam uns ein Trupp Greise hinterher, auf einem Handkarren ein Bierfass und ein totes Schwein. Als wir den Steg überquert hatten, waren die Russlacher auf der Viehweide bereits dabei, einen großen Baumstamm aufzustellen und die Kadaver darum herum aufzuschichten. Es sah aus wie die verkohlten Überreste im Wald. Mich gruselte.
Ich, wie fast jedes Kind hier in der Gegend, hatte schon so viele Schauergeschichten über die Perchtln gehört, so viele Perchtlläufe mitgemacht, aber als Erwachsener natürlich nicht mehr daran geglaubt. Wenn es die Perchtln also wirklich gab und nicht alles bloß eine Geschichte war, was bedeutete das für alles andere? War Andreas von Rieding doch ein echter Heiliger? Und die Kirche, der Holderer und die Amtmänner lagen falsch. Warum versuchten der Holderer, seine Wahrer und die Amtmänner trotzdem alle Spuren des Andreasglaubens auszulöschen? Wenn doch alles stimmte und gar kein Aberglaube war. Waren die Andreaspfähle und -kapellen nicht echter als die Kirchen und Wegkreuze mit der Mutter Gottes und dem heiligen Christophorus.
Ich ging langsam mit den Kindern auf den großen Pfahl mit den Leichen zu. Eltern umarmten ihre Kinder, andere Erwachsene brachten Holz und verteilten es auf, neben und unter den Toten. Irgendwo wurde ein Kohlehaufen angezündet, das Schwein abgeladen und das Fass angezapft. Ich ging langsam aber zielstrebig immer weiter auf den Scheiterhaufen zu. Als ich davor stand, traute ich mich erst nicht, mir die toten Perchtln anzusehen. Oben auf dem Haufen lag ein weiblicher Perchtl. Klein wie ein achtjähriges Kind, schwarze Haare und ledrig-braune, runzelige Haut. Die Nase war stark gekrümmt und die Augen wirkten wie zornig zusammengekniffen. Aber vielleicht war es doch keine Frau und ich tappte wieder in die Holdererfalle, weil ich mir einen bartlosen Mann einfach nicht vorstellen konnte. Alle anderen toten Perchtln hatten auch keine Bärte. Vielleicht hatten sie einfach keine. Ihre Kleidung war, ähnlich der unseren, einfach. Hosen, Wollhemden, Filzhüte. Was mir bei einem der Perchtln auffiel, waren seine farbenprächtigen Schuhe. Weiß mit bunten Seiten. Fast leuchtend. Plötzlich verstand ich, was der Saillerbub mit »von selber rot« gemeint hatte. So musste die Farbe gewesen sein, die Benno auf dem Wachten gesehen hatte. Aber bevor ich mir die Schuhe genauer ansehen konnte, kam einer der Russlacher, schob mich beiseite, goss Spiritus oder etwas Ähnliches über den Scheiterhaufen und zündete ihn mit einer Fackel an. Schlagartig wurde es sehr heiß und ich torkelte zurück.
Ich schaute in das Feuer und sah den Toten beim Verbrennen zu. Gesichter, die sich immer mehr verzerrten, Körperfett, das zischte und sprudelte, Finger, die sich zu Klauen krümmten, der anfangs fast angenehme Geruch von Gebratenem, der einem erst das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ und einem dann aber die Kotze in die Kehle trieb, sobald man daran dachte, wessen Fleisch da briet. Später roch es nur noch verbrannt und die Körper der Toten verkohlten mehr und mehr. Ein Geruch, vertraut und beängstigend. Ein Geruch, den ich kannte. Untrennbar mit der Katastrophe verbunden, bei der ich meine ganze Familie verloren hatte.
Neben mir stand ein Mann, der im Vergleich zu allen anderen, die auf der Viehweide waren, sehr sauber war. Seine Kleidung wirkte städtisch und sein Schnurrbart war ordentlich gestutzt. Wahrscheinlich der Amtmann von Russlach, dessen Brotzeit ich gegessen hatte. Fast hatte ich ein schlechtes Gewissen. Er schaute mich an. Er wirkte wie ein Schulbub, der bei einem Streich erwischt worden war. Seine Anwesenheit schien ihm peinlich zu sein. Er schaute mich an, zuckte mit den Schultern und ging zurück ins Dorf.
Die Kirchenglocke begann zu läuten. Der Himmel riss auf und plötzlich war alles wieder gut. Der Spanferkelduft war stärker als der Gestank der verkohlenden Perchtln, das Bier floss und die Kinder tanzten. Einer der Dörfler spielte auf seiner Ziehharmonika. Das Perchtlschlachten war nicht viel länger als eine halbe Stunde her.
Ein Russlacher hatte mir ein Bier gegeben. Ich trank und ging damit über die nachmittägliche Weide in Richtung Wald. Dorthin, wo ich die überlebenden Perchtln hatte verschwinden sehen. Ich konnte mich trotz der brennenden Leichen eines stillen Glücksgefühls nicht erwehren. Die Sonne, die Wärme, die Musik, die tanzenden Kinder, die Berge, der leichte Biersuri. Obwohl ich nichts getan hatte, als dem Kampf vom anderen Pfafflufer aus zuzusehen, fühlte ich mich den Russlachern sehr nah. Ich pfiff und setzte mich auf einen umgefallenen Baum am Waldrand. Die Kinder begannen jetzt sogar in einer Pfafflgumpe zu baden und spritzen sich gegenseitig kreischend mit dem eiskalten Wasser an. Von der Angst in ihren Augen war nichts mehr zu sehen.
Das Schwalbennest
Bericht von Joseph Kiener. Fortsetzung
Kiener«, hörte ich hinter mir. Ich erschrak. »Kiener, komm.« Ich drehte mich um. Hinter mir begann das Dickicht des Waldes. Ich blickte vorsichtshalber wieder stur nach vorne. Das war die Stimme von Elsi. Ich drehte mich wieder um. Sie stand mitten im Unterholz im Dunklen und schaute mich an. Das helle Gesicht im dunklen Wald. »Ich konnte dich nicht alleine gehen lassen, Kiener. Du siehst ja, was dir dann passiert. Jetzt komm. Zum Engel.«
Als ich mich an das Dämmerlicht im Wald gewöhnt hatte, sah ich dass Elsi ungewöhnlich gekleidet war. Ein grober Janker, ein Jägerhut, eine wollene Bundhose und ein Rucksack. Wie ein Mann. Wie der Traublinger, wenn er ins Holz geht, um seine Fichten zu überprüfen und zufällig mit einer Wildsau und einem Mordsrausch heim kam. Vielleicht waren das sogar die Kleider vom Traublinger. »Komm, ich bring dich zum Engel. Das hätte ich eh besser gleich gemacht und dich nicht erst alleine loslaufen lassen sollen.«
»Elsi, was ist da gerade passiert?«
Elsi ging den Hang nach oben.
»Komm, Kiener.«
»Ich wollte in Russlach nach dem Weg zum Doben und nach Hinterwald fragen, und dann war da niemand und dann plötzlich die Perchtln und das Blut und die Kinder und die Musik.«
Elsi war ungeduldig: »Das muss dir alles der Engel erklären. Und mit Hinterwald wärst du so eh nicht weiter gekommen. So heißt der Engel, wenn er nicht Engel genannt wird.«
Wir gingen langsam. Bergauf ist noch nie meine Stärke gewesen. Elsi lief viel schneller als ich.
Wir stiegen bestimmt über eine Stunde durch den Wald. Als wir schließlich auf einer Lichtung zum Rasten kamen, konnten wir kurz über das ganze Tal blicken. Von Russlach aus stieg immer noch dunkler Rauch auf. Viel weiter hinten konnte ich den Kirchturm von St. Jakob in Rieding erkennen.
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