Schuldenberatung ist daher nicht nur ein Hilfeangebot für den Einzelfall. Sie ist Akteurin und Teil der Antwort auf diese gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, indem sie im öffentlichen Auftrag die negativen Folgen der privaten Verschuldung bekämpft. Aus der Perspektive der Theorien sozialer Probleme heraus bedeutet dies, dass ein gesellschaftlicher Konsens besteht, dass überhöhte Verschuldungssituationen verhindert werden sollen (Groenemeyer 2010). Dies beruht auf der Annahme, dass es durch die objektiven finanziellen und subjektiv im Alltag anzutreffenden psychischen Belastungen durch Schulden zu weiteren Beeinträchtigungen der Betroffenen kommt. Schuldenberatung ist somit ein Bekenntnis einer Konsum- und Finanzdienstleistungsgesellschaft, dass individualisierte Risiken und Folgeprobleme von Verschuldung abgemildert und im sozialstaatlichen Verständnis bearbeitet werden müssen.
Schuldenberatung ist zugleich aber auch Akteurin in der sozialpolitischen Diskussion darüber, Verschuldung als soziales Problem zu thematisieren und fachlich zu rahmen, den jeweiligen Veränderungsbedarf zu definieren und Überzeugungsarbeit im Zusammenhang von politischen Entscheidungen zu leisten. Im Rahmen ihrer Fachverbände versteht sie sich als sozialpolitische Akteurin, zugleich aber auch als Anbieterin von Lösungen, um dem Problem der privaten Verschuldung entgegenzuwirken (vgl. Ebli 2003: 127).
2.2 Schuldenberatung als Fortschrittskonzept
Ein Blick in die Entstehung der Schuldenberatung zeigt, dass in den Anfängen dieses Hilfeangebotes Unklarheit bestand, ob nun das Phänomen Konsument*innenverschuldung, das seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts zunehmend in Erscheinung trat, bekämpft werden soll, auch mit dem aus heutiger Sicht unrealistischen Ziel, diese wieder beseitigen zu können. Oder ob es um die Bewältigung auswegloser Verschuldungssituationen geht, zu der externe Unterstützung durch eine Beratungsstelle oder spezialisiertes Expert*innenwissen erforderlich ist, die sozusagen als soziale Dienstleistung für eine normal gewordene Notlage agiert.
Da sich seit den 1970er Jahren inzwischen eine auf Finanzdienstleistungen beruhende Konsumgesellschaft unstrittig durchgesetzt hat, Verschuldung als gesellschaftliche Realität akzeptiert wurde, diese in das Rechtssystem integriert und ein auf private Konsumnachfrage beruhendes Gesellschaftsmodell etabliert werden konnte, geht es längst nicht mehr um die Bewältigung einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung. Schuldenberatung bearbeitet ein gesellschaftlich integriertes Problem und wendet Verfahren und Gesetze an, die aus der Überzeugung der Schutzbedürftigkeit der verschuldungsbetroffenen Haushalte durch den Gesetzgeber eingeführt wurden. Zudem begleitet sie den gesellschaftlichen Fortschritt durch flankierende Maßnahmen und ihr sozialpolitisches Engagement, die gesellschaftlichen Transformationsprozesse so zu gestalten, dass auch für verschuldete oder zahlungsunfähige Menschen Teilhabe möglich ist.
Schuldenberatung ist somit Teil eines gesellschaftlichen Fortschrittskonzeptes, das parteilich die Anliegen und Bedürfnisse verschuldungsbetroffener Menschen politisch verwertet, durch eigenes berufliches Handeln negative Auswirkungen von Verschuldung bekämpft und mit der Haltung den Betroffenen gegenüber tätig ist, dass verhaltens- und verhältnispräventiv eine Bekämpfung des Problems möglich ist (vgl. Mattes 2010: 214).
2.3 Schuldenberatung als Spezialisierung und Arbeitsteilung
Die Entstehung spezialisierter Schuldenberatungsstellen ist einerseits den expansiven Sozialstaatsvorstellungen geschuldet, die lange Zeit spezialisierte Hilfen priorisierten und Professionalität mit spezialisierten Angeboten gleichsetzten. Insbesondere in den 1980er Jahren, unter dem Druck stetig steigender Arbeitslosigkeit und Entstehung von Armut als gesellschaftlicher Realität, bildeten sich eine Vielzahl spezialisierter Hilfeangebote in der Sozialen Arbeit aus, die sich schnell der Kritik ausgesetzt sahen, zu sehr auf ein bestimmtes Problem fokussiert und zu wenig vernetzt mit anderen Hilfeangeboten zu arbeiten. Dass ein möglichst ausdifferenziertes und spezialisiertes Hilfesystem nicht zwangsläufig mit der Qualität und Wirksamkeit von Hilfen gleichzusetzen ist, wurde erst viel später erkannt. Im Zusammenhang erforderlicher Kostenersparnisse und dem zunehmenden Druck auf soziale Institutionen, bestimmte Qualitätsstandards einzuhalten und die Erreichbarkeit ihrer sozialpolitisch definierten Ziele nachzuweisen, trübte sich das Bild der spezialisierten Hilfen spürbar ein. Die Wiederentdeckung der Qualität von Hilfen aus einer Hand oder von Hilfen unter einem Dach stellte die vorangegangene Spezialisierung der Sozialen Arbeit grundlegend in Frage, verlangte wieder mehr Kooperation, Fallführung und Vernetzung (Grunwald/Thiersch/Ansen 2016).
Doch gab und gibt es weiterhin gute Gründe, weshalb sich gerade zum Problem der privaten Verschuldung ein hoch spezialisiertes Angebot entwickelte und sich als Anbieter von Lösungen weiterhin hält. Kein anderes Beratungsangebot der Sozialen Arbeit ist genuin so stark technokratisch geprägt, wie das von Schuldenberatungsstellen zur Verfügung gestellte Expert*innenwissen und die Verfahrensroutinen im Umgang mit Gläubiger*innen.
Zwar wirft die Relevanz dieses exponierten Expert*innenwissens immer wieder die Frage nach dem professionellen Selbstverständnis von Beratung bei Verschuldung auf. Doch erbringt die Schuldenberatung zugleich auch eine wichtige Dienstleistung für viele andere Bereiche der Sozialen Arbeit. Sie ist Wissensträgerin und Multiplikatorin zu verschuldungsrelevanten Fragen innerhalb des Hilfesystems. Damit gemeint ist, dass nicht nur durch Schuldenberatungsstellen Betroffene beraten werden. Auch in anderen Arbeitsfeldern treffen Sozialarbeitende auf Menschen mit Geld- oder Schuldenproblemen. Innerhalb dieser nicht spezialisierten Beratung greifen sie auf Wissen zurück, das von der Schuldenberatung bereitgestellt und durch Weiterbildungen und Fachberatungen vermittelt wird oder nehmen deren kollegiale Fallberatung in Anspruch. Das heißt, die nicht spezialisierte Schuldenberatung ist auf die Vernetzung und den fachlichen Austausch mit spezialisierten Stellen angewiesen, um das Thema Schulden integriert in ihr eigentliches Beratungsangebot für die jeweilige Zielgruppe anbieten zu können.
2.4 Schuldenberatung als Akteurin im Rechtssystem des Konsument*innenschutzes
Aus sozialpolitischer Sicht sind die bisherigen großen Erfolge der Schuldenberatung im Zusammenhang des Konsument*innenschutzes und der Neuregelung gerichtlicher Verfahren und Abläufe zu finden. So waren es in den Anfängen vor allem herbeigeführte gerichtliche Grundsatzurteile zu überhöhten Zinsen, Kostentransparenz oder Formulierungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen und Kreditverträgen, die dem Konsument*innenschutz und der Schuldenberatung zugleich Ruhm und Ansehen bescherten. Dies war insbesondere in den 1950er bis 1970er Jahren sehr bedeutend, als die Konsum- und Kreditwirtschaft den Markt der Privatpersonen und Privathaushalte für sich entdeckte und eroberte. In diese Zeit vollzog sich unter anderem auch die Einführung und Durchsetzung des Lohn- und Gehaltskontos für private Haushalte. Die Einführung dieser neuen Bankdienstleistung war aber auch mit einer schmerzhaften Zäsur durch die Kreditwirtschaft verbunden. Nachdem die Barauszahlung der Löhne durch die Arbeitgeber*innen nicht mehr praktiziert wurde, die Dienstleistung der Bankkonten und des bargeldlosen Zahlungsverkehrs für Privathaushalte auf dem Markt durchgesetzt war, wurden fortan nicht mehr allen Personen Bankkonten zur Verfügung gestellt. Ausgeschlossen waren ab dann Personen und Haushalte mit überhöhter Verschuldung, wegen Zahlungsrückstände gekündigter Kredite und bestimmter gerichtlicher Zwangsvollstreckungsmaßnahmen.
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